Ein vielstimmiger Aufschrei folgte auf die Entscheidung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Anfang Juni, die Nationalversammlung aufzulösen. Seine Koalition wurde bei der EU-Wahl abgestraft, nun sollte das Volk neu entscheiden. Doch keines der drei Bündnisse konnte eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung sichern, das tonangebene Linksbündnis steht auf sehr wackligen Beinen, da das französische Parlament nicht koalitionserprobt ist. Handelte Macron also aus politischem Kalkül – oder doch als wahrer Demokrat? Eine Frage, die ein grelles Licht auf die Verfaßtheit heutiger Demokratien wirft.
In seinem gewichtigen Werk „Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5.000 Jahren“ geht der Kieler Emeritus Rainer Mausfeld der Entstehung, dem Mißbrauch wie auch der Verteidigung der Demokratie von der Antike bis heute nach: Demokratie, die Herrschaft des Volkes, entstand einst als Werkzeug zur Eindämmung von Exzessen der Macht – und zwar durch das dezidierte Mitspracherecht mündiger Bürger. Doch genau hier steht das Einfallstor des Machtmißbrauchs, denn nicht erst seit heute bedienen sich die Herrschenden verschiedenster Mechanismen, um das Wohlwollen der Wähler zu gewinnen. Diese Strategien zur Beeinflussung des Wahlvolks basierten schon immer auf Versprechungen – Wohlstand, Sicherheit, Glück – und haben sich längst dazu entwickelt, die Urteilsfähigkeit des Demos zu steuern. Ein Grund mehr für den Kognitionsforscher Mausfeld, diese Maßnahmen und Strategien der sich angeblich für Volkes Wohl einsetzenden Machtelite zu beleuchten und so den wahren Souverän – möchte man ihn nun wie der Autor als „Volk“ oder doch lieber als „Bürger“ bezeichnen – für die Wahrnehmung echter Demokratie zu befähigen.
Folgerichtig beginnt Mausfeld in seinem in drei Teile gegliederten Buch mit dem psychologischen Fundament des Menschen: Gerade dessen Befreiung vom reinen Instinkthandeln habe ihn dazu befähigt, abstrakt sowie symbolisch zu denken. Damit sei ein immenses kreatives Potential entstanden, darunter die „Befähigung zur Moralität und zur kreativen kulturellen Ausbildung sozialer Normen und Werte“, mithin eines komplexen Bewertungssystems. Das allerdings führte nicht nur zum Guten, Wahren, Schönen, sondern auch zu Hybris, also dem „schamlosen Ausnutzen von Macht“. Das führte im Verlauf der Menschheitsgeschichte, die im zweiten Teil dargelegt wird, zur „Entstehung parasitärer Eliten“ und ihren nicht immer feinen Bestrebungen zu Ansammlung und Erhalt von Macht. Ebenso schildert Mausfeld aber auch die vielfach geglückten Anstrengungen, die Gewalt dieser Machteliten einzudämmen: Ausführlich und mit deutlicher Sympathie beschreibt er, wie sich der Grundgedanke der Demokratie in der Antike herausbildete, da „Herrschaft nur unter der Verfahrensbedingung freier und gleicher Teilnahme aller Betroffenen eine Legitimation finden kann“.
Eine freie und unabhängige Meinungsbildung wird vorgegaukelt
In den letzten einhundert Jahren hat sich die Demokratie in den meisten Staaten der Welt durchgesetzt. Ein Siegeszug? Mitnichten, konstatiert Mausfeld. Auf das Goldene Zeitalter folgte auch hier der Sündenfall, indem die Mächtigen und Reichen das demokratische Versprechen von Freiheit und Selbstbestimmung gekapert hätten: Mit dem kleinen Zusatz „repräsentativ“ sei die Demokratie nun dazu verdammt, „eine Oligarchie mit der Unterstützung der Masse der Bevölkerung über Wahlen an der Macht zu halten.“ Schon 2018 fragte der Autor im gleichnamigen Buch „Warum schweigen die Lämmer?“ und setzte sich mit den Techniken moderner Propaganda, getarnt als Public Relations, auseinander. Nun beleuchtet er dieses Arsenal von zunächst kaum wahrgenommenen Methoden der Bewußtseinskontrolle, durch die der politische Diskurs zunehmend gesteuert und eingeengt wurde – und wird. Mausfeld folgt dabei dem Begriff des „umgekehrten Totalitarismus“, den der US-amerikanische Soziologe Sheldon Wolin bereits 2003 prägte: Statt der „Hard Power“, also gewaltsamer Repressionen, wie man sie aus totalitären und/oder kommunistischen Systemen kennt und die letztlich immer den Widerstand des Volkes hervorrufen, setzt der umgekehrte Totalitarismus auf Meinungsmanipulation, Indoktrination sowie die Kontrolle des politischen Streits inklusive eines verstärkten Konformitätsdrucks. Unter diesen Maßnahmen der psychologisch ausgerichteten „Soft Power“, also der ideologischen Macht, wird den umfassend Beherrschten eine freie und unabhängige Meinungsbildung vorgegaukelt.
Rainer Mausfeld verfaßte seine Kritik aus dezidiert linker Sicht, dementsprechend liegt für ihn die Wurzel des Übels im Kapitalismus, der mit der Demokratie unvereinbar sei. Man muß einwenden: Die Allianz aus Macht und Kapital ist heute gerade deshalb so erfolgreich, weil sie sich linker Ideologeme bedient. Alexander Wendt hat in seinem Buch „Verachtung nach unten“ klar aufgezeigt: Wie stark Macht und der Wille zu ihrem Erhalt auch die Ideen der Moral und des Sozialen instrumentalisieren, kann seit Jahrzehnten im sogenannten Wertewesten beobachtet werden. Und dennoch: Mausfeld hat ein wahres Kompendium an Strategien zum Machterhalt geschaffen, durch das sich der aufmerksame Bürger gegen allerlei Formen von Manipulationen schützen kann – zugunsten einer freien Meinungsbildung. Sein Buch ist nicht zuletzt die Anrufung von Nemesis, der griechischen Göttin des gerechten Zorns und der „Bestrafung moralisch unziemlichen Verhaltens“ (Mausfeld). Ihr Erscheinen könnte und sollte die Waffen der Elite im Kampf für „unsere“ (vulgo: ihre) Demokratie stumpf werden lassen. Wie sagt Mausfeld so schön am Ende seines Buches? „Die Entscheidung liegt bei uns.“
Rainer Mausfeld: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5.000 Jahren. Westend Verlag, Neu-Isenburg 2023, gebunden, 510 Seiten, 36 Euro