Als der italienische Dichter Filippo Tommaso Marinetti im Februar 1909 das „Futuristische Manifest“ in Paris vorstellte, hatten seine Visionen noch wenig Gemeinsamkeiten mit dem, was man heute allgemein als „Woke“ bezeichnet. Marinetti erklärte, er wolle gegen „den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen“, besang „die Ohrfeige und den Faustschlag“ und schwärmte vom Krieg. Dennoch, so stellt es der rumänische Musiktheoretiker und Komponist Tom Sora klar, läßt sich vom „Manifesto del Futurismo“ eine Linie zu der heutigen radikalen Linken ziehen. Die Verwandlung des klassischen militanten, marxistisch-leninistischen Linksextremismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zur post-marxistischen Neuen Linken, so Soras These, wäre ohne die avantgardistischen Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts nicht möglich gewesen. Obwohl die Futuristen von der Zerstörung der „Bibliotheken und Akademien“ und damit aller klassischen Kultur schwärmten, waren sie jedoch noch nicht sozialistisch geprägt. Mit zahlreichen Zitaten zeichnet Sora jedoch nach, wie ihr revolutionärer Gestus und ihre kulturellen Tabula-Rasa-Phantasien die Linke, allen voran den Marxisten Antonio Gramsci, nachhaltig prägten und begeisterten.
Als erste tatsächlich marxistisch geprägte Kunstbewegung versteht der Autor die Dadaisten. Punkt für Punkt zeigt Sora dabei auf, wie sich hinter den zunächst bizarr klingenden Äußerungen der Dadaisten ein handfester ideologischer Unterbau befindet: die Zerstörung von Normalität, die Vernichtung des Individuums und der Aufbau einer massebasierten, „proletarischen“ Führungsklasse, die Zerstörung der Familie und die Abschaffung des Privatbesitzes.
Im Fokus des Buches steht jedoch der auch im Untertitel erwähnte amerikanische Komponist der sogenannten Neuen Musik, John Cage. „Die Revolution“, so faßte es dieser einmal zusammen, sei „das eigentliche Anliegen“ seines Werkes. Damit war zum einen eine Bewußtseinsveränderung gemeint, die er mit seiner eigenen, atonalen und zuweilen sehr bedrohlich klingenden Musik anstoßen wollte. Cage wollte mit seiner Musik jedoch auch zu einer revolutionären Praxis inspirieren – als agitierender Botschafter im Sinne Lenins, der Intellektuelle zur Avantgarde radikal umwälzender Veränderungen erklärte. Nach eigenen Angaben begann Cage in den frühen 1970er Jahren ein „methodisches Studium der Schriften Mao-Tse-tungs“ und betrachtete dessen totalitäres Gesellschaftssystem als Mittel zur „Befreiung eines Viertels der Menschheit“. Die von Cage angestrebte Zerstörung von Sinn, Sprache und Unterscheidungsfähigkeit betrachtet der Autor dabei als Vorläufer heutiger universitär-linker Bewegungen.
Tom Sora: Linke Intellektuelle im Dienst des Totalitarismus. Wie die Kunstavantgarde den Weg für die Woke-Bewegung bereitete – das Beispiel John Cage. Solibro Verlag, Münster 2024, broschiert, 412 Seiten, 24 Euro