Gibt es ein verdecktes Zusammenspiel zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundestag zu Lasten der AfD-Fraktion? Dieser Eindruck drängt sich auf angesichts der elf Organstreitverfahren, die zum Teil seit 2019 beim höchsten deutschen Gericht unerledigt in den Aktenschränken liegen. Judikative und Legislative vereint im „Kampf gegen Rechts“? „Verzögertes Recht ist verweigertes Recht“ lautet eine juristische Maxime.
Auf eine Anfrage der JUNGEN FREIHEIT hat das Gericht erwartungsgemäß eher nichtssagend geantwortet. „Die Verfahren befinden sich in Bearbeitung“, heißt es da. Was denn sonst? Und weiter: „Das Bundesverfassungsgericht äußert sich aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zur Dauer anhängiger Verfahren.“ Die Frage, ob die Anzahl von Klagen beziehungsweise Organstreitverfahren aus dem parlamentarischen Bereich seit 2017, seit die AfD erstmals in den Bundestag einzog, zugenommen hat, bejaht Karlsruhe.
Immerhin gab das Gericht nun bekannt, daß es am 18. September das Urteil über zwei Rechtsfragen verkünden will, die im parlamentarischen Alltag eine wichtige Rolle spielen. Es geht um die Frage, ob alle Fraktionen das Recht auf Vorsitze in den Ausschüssen des Parlaments haben oder ob die Ausschüsse per Wahl auch anders entscheiden können. Die Ausschüsse gelten unbestritten als die eigentlichen Arbeitseinheiten des Parlaments.
Es entsprach jahrzehntelanger Praxis, die Vorsitzenden-Posten nach dem Zugriffsverfahren zu verteilen, vorausgesetzt, der Ältestenrat konnte sich zuvor nicht auf die Verteilung der Vorsitze einigen. Die Fraktionen dürfen dann entsprechend ihrer Größe auf die Leitungsposten zugreifen. Die AfD entschied sich zu Beginn der Wahlperiode im Dezember 2021 für die Ausschüsse für Inneres und Heimat, für Gesundheit sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Doch die Ampel-Fraktionen wußten dies zu verhindern. Sie beantragten eine geheime Wahl. Ein absolutes Novum ohne Rechtsgrundlage in der Geschäftsordnung. Prompt fielen die drei AfD-Kandidaten durch.
Auch die Unionsfraktion reihte sich ein in die Ablehnungsfront. Seitdem werden die Ausschüsse von den Vizevorsitzenden geleitet. Als einzige Fraktion stellt die AfD damit keinen Ausschußvorsitz, während sogar die Linke bis zu ihrer Spaltung stolz auf einen Vorsitzenden verweisen konnte. Ob das Verfassungsgericht diesem Mangel abhilft, ist zumindest fraglich. Ein Eilantrag der AfD-Fraktion zur vorläufigen Einsetzung der drei Kandidaten als Vorsitzende blieb 2022 erfolglos.
„Einkalkuliert, daß sich keiner mehr an den Skandal erinnert“
Das Karlsruher Gericht wird im September auch darüber entscheiden, ob die Abwahl des AfD-Politikers Stephan Brandner als Vorsitzender des Rechtsausschusses Ende 2019, also in der vorherigen Wahlperiode, rechtens war. Denn in der Geschäftsordnung des Bundestages ist eine Abwahl nicht geregelt, sie erfolgte also ohne rechtliche Grundlage.
Der Jurist Brandner verdächtigt das Verfassungsgericht, eine Verzögerungsstrategie zu verfolgen. „In der Hoffnung, daß sich irgend etwas von selber löst, etwa wie aktuell durch oppositionsfeindliche Änderungen der Geschäftsordnung“, betonte er gegenüber der jungen freiheit . Und in der Tat läßt sich ein zeitlich enges Zusammenwirken zwischen Judikative und Legislative nicht bestreiten. Stichwort Abwahl von Ausschußvorsitzenden. Gerade hat die Koalition aus SPD, Grünen und FDP eine „grundlegende Reform“ der Geschäftsordnung vorgelegt. SPD-Parlamentsgeschäftsführer Johannes Fechner erklärte in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs Anfang Juni: „Wir werden des weiteren dafür sorgen, daß wir die Abwahlmöglichkeiten von Personen, die ungeeignet für ihre Ämter sind, einführen. Das haben wir uns für den Herbst vorgenommen. Wir wollen zunächst das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes abwarten.“ Dementsprechend findet sich im 70seitigen Gesetzesentwurf kein Wort zum Thema Abwahl.
Nach der Urteilsverkündung werden die Ampel-Koalitionäre bei der von ihnen erhofften Niederlage der AfD ihren Gesetzentwurf schnell noch einmal ändern. Rechtlich unzulässig ist ein solch abgestimmtes Vorgehen nicht, doch hinterläßt es ein Geschmäckle. Mit der geplanten „Reform“ lassen die Ampel-Fraktionen die Organstreitverfahren der AfD ins Leere laufen. Der parlamentarische Brauch, Geschäftsordnungsregeln möglichst einvernehmlich zu regeln, zumindest die Opposition formal anzuhören – die Ampel scherte sich nicht darum. Beteiligt an den Beratungen wurde nur die Unionsfraktion. Auf den Karlsruher Richterspruch darf man gespannt sein, auch hinsichtlich der Versagung der Ausschußvorsitze.
Weiterhin ohne Termin ist das Organstreitverfahren der AfD-Fraktion wegen eines von der damaligen Bundestagspräsidentin Claudia Roth (Grüne) verweigerten Hammelsprungs. Rückblick: In den frühen Morgenstunden des 28. Juni 2019, also vor mehr als fünf Jahren, hatte die AfD die Beschlußfähigkeit des Parlaments bezweifelt, da nicht die Hälfte der Mitglieder im Saal anwesend seien. Aufzeichnungen des Parlamentsfernsehens belegen eindeutig, daß allenfalls hundert, aber nicht wie erforderlich mindestens 355 Abgeordnete im Plenarsaal zugegen waren. Bei einem Hammelsprung verlassen die Abgeordneten den Saal und kehren durch verschiedene Türen zurück, so daß die Ja- und Neinstimmen exakt gezählt werden können. Daß es Roth gelang, der AfD den Hammelsprung zu verweigern und damit den Abbruch der Marathondebatte zu verhindern, lag am dreiköpfigen Sitzungsvorstand. Die Vertreter von CDU und FDP schlugen sich auf Roths Seite. Und bei Einigkeit im Sitzungsvorstand findet laut Geschäftsordnung kein Hammelsprung statt. Die Datenschutzgesetze wurden verabschiedet.
Da werde wohl ins Kalkül gezogen, daß „der Ausgang von Verfahren, die jahrelang herumliegen, keinerlei juristische wie auch politische Wirkung mehr haben und sich kein Bürger mehr an diesen Skandal erinnert“, meint Brandner. Eine offenkundige Fehlentscheidung des Bundestags, seit über fünf Jahren vom Bundesverfassungsgericht ungerügt.