© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/24 / 16. August 2024

Frag mal deinen Nachbarn
Multi-Kulti in Deutschland: Wie denken eigentlich Migranten und Minderheiten über Integration und Einwanderung?
Lorenz Bien

Die Autorin und Journalistin Simone Schermann muß nicht lange überlegen, wenn es darum geht, was sie über die aktuelle deutsche Politik denkt. „Die AfD ist jedenfalls nicht das, wovor ich als Jüdin in Deutschland Angst habe“, sagt sie der JUNGEN FREIHEIT. Dabei sorge sie sonst durchaus eine Menge. Genug jedenfalls, um sich nicht mehr, wie sie es noch zu Jugend- und Studententagen tat, selbst als Deutsche zu identifizieren. 

Der Rechtsgelehrte und langjährige deutsche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde mahnte in seinem 1991 veröffentlichten Buch „Recht, Staat, Freiheit“, daß ein Staat, um sich als „politische Einheit“ zu erhalten, immer „eines einigenden Bandes“ und einer „homogenitätsverbürgenden Kraft“ bedürfe. 

Gemeint war damit, daß eine Gesellschaft, die sich ständig darum streiten muß, was sie eigentlich grundsätzlich will, nicht lange besteht. Erst recht nicht als Demokratie. Schließlich nimmt gerade die Demokratie für sich in Anspruch, möglichst viel Ausgleich zwischen verschiedensten Interessen und Ansichten zu schaffen. Ein solcher Ausgleich wird allerdings schwieriger, je stärker sich die Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Wertvorstellungen in einer Gesellschaft voneinander entfernen. Eine solche Einigkeit selbst wiederherstellen kann der liberale Staat nicht, wie Böckenförde schließlich in seinem berühmten Diktum betont: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ 

Ganz anders sehen es mittlerweile die meisten Institutionen und Politiker Deutschlands. In den Texten der Bundeszentrale für politische Bildung werden die Begriffe „Vielfalt“ oder „Diversität“ in erster Linie positiv verstanden. Sie seien „menschenrechtsbasiert“, zielten auf „Chancengleichheit und den Abbau von Diskriminierung“, faßte es die Journalistin Elisabeth Gregull vor einigen Jahren zusammen.

Wie aber verhält es sich, wenn dieser Ansatz aus konservativer Sicht ausprobiert wird? Was denken (konservative) Einwanderer und Minderheiten über Deutschland und die deutsche Politik?

„Ich bin in Frankfurt aufgewachsen. Dort konnte man als junges Mädchen bereits in den neunziger Jahren nicht U-Bahn fahren, ohne angemacht zu werden. Es gibt eine Art, Frauen anzumachen, die ich ausschließlich bei arabischen Männern beobachtet habe, die durchtränkt ist mit Geringschätzung und Gehässigkeit gegenüber nichtmuslimischen Frauen“, erzählt Schermann. Wenn sie ihren bio-deutschen Freunden diese Erlebnisse schilderte, sei sie beschwichtigt worden. Nicht alle seien so, habe man ihr entgegnet, und daß sie übertreibe.

Später, während ihrer Studentenzeit in Freiburg und danach, irritierte sie das deutsch-jüdische Verhältnis zunehmend. „Die deutsche Erinnerungskultur ist merkwürdig. Man mag tote Juden, denen man Stolpersteine legen kann. Aber lebende Juden sind weniger gerne gesehen, erst recht nicht, wenn sie die deutsche Politik kritisieren.“ Viele Akteure mögen ehrenwerte Motive haben, an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, sagt Schermann, aber insgesamt handele es sich um „eine Obsession, die nie zu einem vernünftigen Ende“ komme. Und „selbstverständlich“ werde die Shoah auch als „Moralkeule“ genutzt, mit der man „die Deutschen in Schach halten“ könne.

Sie wisse, daß solche Aussagen als provokant empfunden würden, betont Schermann. Doch das Thema liege ihr gerade als Jüdin am Herzen. „Ich sage es jetzt einmal hart: Bei vielen Akteuren sind Gedenken und Antisemitismus zwei Seiten der gleichen Medaille. Man gedenkt der toten Juden der Vergangenheit und agiert gleichzeitig gegen die heute Lebenden.“ Bereits zu Uni-Zeiten habe sie sich eingemischt, wenn es um das Thema Israel gegangen sei. „Ich hatte eine sehr intuitive Verbundenheit mit dem Land, da ich dort Verwandte habe und meine Familie ihren Urlaub dort verbrachte.“ Bei ihren Kommilitonen sei sie damit nicht gut angekommen. „Damals wurden eigentlich schon die Samen für das ausgeworfen, was wir heute an den Universitäten beobachten können: Der Staat Israel wird mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt oder als Apartheidsstaat bezeichnet.“

Dabei gebe es in ihren Augen tatsächlich viele Dinge, die die Deutschen angesichts der grausigen Vergangenheit heute von Juden lernen könnten. „Einen modernen Konservatismus zu leben. Was es bedeutet, Werte zu verteidigen. Oder patriotisch zu sein.“ Einmal habe sie persönlich beobachtet, wie ein junger Soldat seiner Familie erklärt habe: „Weint nicht, wenn ich wieder in den Einsatz muß. Ich gehe dann zu meinen Freunden“. Damit meinte er die Kameraden aus der Armee. Das habe sie sehr gerührt.

„Eigentlich ticken die meisten in Deutschland lebenden Juden viel konservativer als die Deutschen“, betont auch der AfD-Landtagsabgeordnete Dimitri Schulz. Sicherlich, ein unparteiischer Beobachter ist Schulz nicht. Aber ein Akteur mit einer deutlichen Meinung. Der Sohn eines Rußlanddeutschen und einer Jüdin wurde 1987 in der Sowjetunion geboren und wanderte als Kind mit seinen Eltern nach Deutschland aus. Auch er glaubt, daß die Deutschen ein verzerrtes Bild der im Lande lebenden jüdischen Gemeinschaft haben. Das liege nicht zuletzt daran, daß die meisten Vertreter jüdischer Gemeinden ihre Ansichten selten nach außen kommunizieren. 

„Die meisten jüdischen Gemeinden biedern sich bei der Regierung an“

„Die meisten öffentlichen Gemeinden und Vereine sind von staatlichen Geldern abhängig und biedern sich daher bei der Regierung an. Während sich die eher konservativen Verbände zurückhalten, um nicht in die Schußlinie zu geraten.“ Er glaube, daß etwa die Hälfte aller in Deutschland lebenden Juden mit der AfD sympathisiert, behauptet Schulz selbstsicher.

Gründe dafür gebe es viele. Sicher, da sei etwa die massive Einwanderung aus arabischen Ländern. Doch eigentlich gehe die Prägung viel tiefer. Etwa 90 Prozent der derzeit in Deutschland lebenden Juden seien aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert und, bei aller Distanz zum dortigen System, dementsprechend vorgeprägt. „Alleine daß es in der Sowjetunion keine 68er-Bewegung gab, macht einen großen Unterschied“, betont Schulz. 

In Deutschland lebende Juden sind nicht die einzige Gruppe, die mit der Mehrheitsgesellschaft fremdelt. Der AfD-Politiker Schulz ist nicht bloß Jude, sondern auch Teil der rußlanddeutschen Gemeinschaft. Die Gemeinsamkeiten mit der deutsch-jüdischen Community liegen für ihn dabei auf der Hand: Beide stammen aus den Gebieten der ehemaligen UdSSR. Und beide können mit der bundesdeutschen Mentalität manchmal wenig anfangen. Das beginne bereits damit, daß sich die Rußlanddeutschen nicht als Einwanderer betrachten würden. „Sie sehen sich als Deutsche, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Für viele Spätaussiedler ist es daher ziemlich befremdlich, wenn man sie mit Migranten vergleicht.“ Deshalb habe diese Gruppe auch sehr früh mit Skepsis auf die Migrationspolitik von 2015 reagiert. „Viele Medien haben die Asylbewerber auf eine Stufe mit den Rußlanddeutschen gestellt. Nach dem Motto: ‘Da haben wir es doch auch schon geschafft.’“ Irritierend sei das gewesen. „Die Rußlanddeutschen betrachten ihre gute Integration als eigene Leistung“, betont Schulz.

Das Spätaussiedlergesetz geht „völlig an der Realität vorbei“

„Irgendwie scheint sich die deutsche Regierung nicht wirklich für Deutsche im Ausland zu interessieren“, sagt auch Vyacheslav Redekop, der seit der Eskalation des Rußland-Ukraine-Kriegs im Februar 2022 in der Nähe von Düsseldorf lebt. Der slawisch klingende Name des 36jährigen mag nicht direkt darauf hindeuten, doch er spricht über sich selbst. Vyacheslav ist Rußlanddeutscher, oder Wolgadeutscher, obwohl sich seine aus Deutschland stammende Familie nicht an der Wolga ansiedelte, sondern in der heutigen Ukraine, in der Stadt Saporoschje. Dort ist er auch aufgewachsen.

Als seine Familie vor etwa zweihundert Jahren von Danzig nach Saporoschje übersiedelte, gehörte das Gebiet zum russischen Zarenreich. Später wurde es ein Teil der Sowjetunion. Eigentlich müßte Vyacheslav als sogenannter Spätaussiedler ein Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Also laut Gesetz ein „deutscher Volkszugehöriger“ sein, „der die Republiken der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31. Dezember 1992“ verlassen hat. Doch das Gesetz geht, wie Vyacheslav sagt, „an der heutigen Realität völlig vorbei“. Laut Gesetz kann derjenige die deutsche Volkszugehörigkeit für sich beanspruchen, der „sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird“. Im Klartext heißt das: Wer nach Deutschland kommt und erst hierzulande Deutsch lernt, hat keinen Anspruch auf einen Spätaussiedler-Status. „Im Endeffekt bedeutet das, daß ich jetzt zurück in die Ukraine müßte, ins Kriegsgebiet, um dann dort Deutsch zu lernen.“

Wer die Geschichte der Deutschen in der Sowjetunion kennt, kann sich darüber wundern. Ab der bolschewistischen Revolution von 1917 litten sie unter gezielter Verfolgung. Ihre Bräuche, ihre Kultur und ihre religiösen Traditionen wurden unterdrückt. Ab den dreißiger Jahren, unter dem Eindruck der Feindschaft zwischen dem Sowjetsystem und dem National­sozialismus, wurden die Deutschen zunehmend als potentielle Spione oder Verschwörer betrachtet und massenhaft nach Kasachstan und Zentralasien vertrieben. Besonders erwachsene Männer wurden gezielt ermordet. Nach Statistiken des Jahrbuchs der Internationalen Asssoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Rußlanddeutschen hatten in ländlichen Ortschaften wie Yamburg, Fischerdorf und Altonau 36 bis 84 Prozent der Familien keine Väter. „Die Brüder meines Urgroßvaters wurden nach Kasachstan in ein Arbeitslager verbannt. Mein Urgroßvater verschwand und niemand weiß etwas über sein Schicksal“, sagt Vyacheslav über diese Zeit. Daß viele Familien die deutsche Sprache in dieser Zeit ablegten, kann kaum überraschen.

„Es war völlig klar, daß man für das Vaterland sterben würde“

Die Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Natalie Pawlik (SPD), habe die Ukraine seit Ausbruch des Krieges noch nie besucht, sagt Vyacheslav – obwohl auf beiden Seiten der Front viele Deutsche leben würden. Auf russischer Seite seien bereits derart viele Deutsche gefallen, daß ausländische Medien schon von einer „Rache Putins“ an den Deutschen sprechen würden. 

„Ihre Vorstellung vom Deutschsein, die vor allem auf Ethnizität beruht“, heißt es in einem Text der Bundeszentrale für politische Bildung über Spätaussiedler, werde „von der Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik nicht geteilt“. Und auch in anderen Punkten scheinen sich die Rußlanddeutschen von dem zu entfernen, was manche gern für Konsens und Mitte erklären würden. So wird der Gemeinschaft, die in den neunziger und 2000er Jahren noch zu großen Teilen die Union wählte, oft zugeschrieben, überdurchschnittlich häufig die AfD zu wählen. Bei der Bundestagswahl 2017 wählten laut Umfragen allerdings noch immer 27 Prozent die Union, die damit erfolgreichste Partei unter Spätaussiedlern wurde. Mit 21 Prozent erzielte allerdings die Linkspartei das zweitbeste Ergebnis – was den deutlichsten Unterschied zur Allgemeinbevölkerung markierte, bei der die damalige Noch-Wagenknecht-Partei lediglich neun Prozent errungen hatte. Dies sei Ausdruck einer „gewissen Sowjetnostalgie“ unter „älteren Rußlanddeutschen“, vermutete damals der Studien­ersteller und Politikwissenschaftler Achim Goerres. Mit 15 Prozent erreichte die AfD bei Rußlanddeutschen hingegen den dritten Platz – und lag nur fünf Prozentpunkte über ihrem tatsächlichen Wahlergebnis von 10,3 Prozent. Für die Bundestagswahl von 2021 gibt es derzeit noch keine bundesweite Untersuchung. 

Er sehe es durchaus so, daß es unter Rußlanddeutschen starke Sympathien für die AfD gibt, sagt der Sprecher der parteiinternen Gruppe „Rußlanddeutsche in der AfD“, Albert Breininger. „Die meisten rußlanddeutschen Familien sind noch immer bis zu einem gewissen Grad von der Erziehung in der Sowjetunion geprägt. Die war auf eine sehr eigene Art konservativ und patriotisch. Es war beispielsweise völlig klar, daß man im Zweifelsfall für das Vaterland sterben würde.“ Bei aller Distanz zum totalitären System der Sowjet­union seien das Werte, die in rußlanddeutschen Familien verinnerlicht wurden. Im Vergleich dazu erscheine die deutsche Gesellschaft und das Schulsystem vielen als albern – zu wenig diszipliniert und mit spleenigem Gender- und Minderheiten-Fetisch. „Die rußlanddeutschen Jugendlichen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, ticken sicherlich bereits anders, liberaler. Aber das Konservative hallt nach.“


Fotos: Vyacheslav Redekop: Schüler mit rußland­deutschen Wurzeln, Simone Schermann: Jüdische Publizistin


Wie sehen Migranten die Politik? Die JF hat gefragt

   Die JF ist auf die Straßen des Berliner Stadtteils Neukölln gegangen und hat Menschen mit Migra­tionshintergrund gefragt, spontan und unmittelbar: Was denken sie über die deutsche Politik und wie sehen sie die Einwanderungspolitik? ­Viele Antworten erstaunen. Im Netz finden Sie die vollständigen Interviews: 


„Bei der Migrationspolitik habe ich auf jeden Fall ein großes Problem. Ich bin selbst jemand mit Migrationshintergrund, ein Kriegsflüchtling aus dem Iran. Ich finde, das hat irgendwann mal angefangen, die Kontrolle zu verlieren.“


„Die Politik heute ist sehr schlecht. Es ist nicht mehr so wie früher. Die AfD ist, das kann man sagen, okay.“


„Es ist nicht mehr wie früher, sag ich mal. Also vor 15 Jahren war es ganz anders. Es ist jetzt überfüllt. Man kann nirgendwo mehr mit seinen Kindern hingehen. Kinder sind nirgendwo mehr sicher. Na klar, ich habe einen Migrationshintergrund. Aber ich habe die deutsche Sprache gelernt und fühle mich nicht mehr sicher. Auch nicht mehr hier.“


„Die AfD kommt hoch. Daran gibt es Gutes und Schlechtes. Aber ich werde ohnehin bald in meine Heimat Indien zurückkehren. In Deutschland sind die aktuelle Politik und die Gewalt ein Problem. Die Migration auch. Zur Zeit haben wir viele Syrer und Ukrainer hier. Ich bin damals nicht als Asylant gekommen, sondern als Fachkraft.“


  jf.de/befragung

 
Meinungsbeitrag Seite 2