Sehr geehrte Frau Laykova, am 20. Oktober soll nun die siebte Parlamentswahl in Bulgarien seit April 2020 stattfinden. Was läuft da seit Jahren schief?
Rada Laykova: Das Land befindet sich in einer beispiellosen politischen Krise. Es ist offensichtlich, daß die bulgarischen Bürger nicht wollen, daß die bürgerliche GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens) und die Partei der bulgarischen Türken (DPS) weiterhin die Regierung führen. Nach 17 Jahren Mitgliedschaft in der EU ist Bulgarien immer noch das ärmste Land in der EU.
Die GERB-Partei regierte Bulgarien fast ununterbrochen von 2011 bis 2021. Auch jetzt führt sie in Umfragen mit 26 Prozent. Was sind die Gründe dafür?
Laykova: Im stillen fördert die Regierung unter Bojko Borissow durch ein Netzwerk von Abhängigkeiten die Korruption. Diese 26 Prozent, die sich bei fast allen Wahlen kaum verändern, deuten auf eine konstante Gruppe von Wählern hin. Bei den Parlamentswahlen am 9. Juni 2024 erhielt die GERB 26 Prozent, was 526.000 Stimmen entspricht. Vergleichen wir dies mit der offiziellen Mitgliederzahl der GERB, die bei 100.000 Personen liegt. Offensichtlich gibt es Unterstützer der GERB, die in einer Abhängigkeitsbeziehung zu dieser Partei stehen. Es ist nicht abwegig zu vermuten, daß sie in den Jahren ihrer Regierungszeit systematisch Personal eingestellt hat, das inzwischen fest in seinen Positionen verankert ist. Diese Personen schaffen wiederum eigene Netzwerke, sowohl in familiären als auch in beruflichen Bereichen, die dann Abhängigkeiten in den Arbeitsverhältnissen erzeugen und sich von den untersten Ebenen der Verwaltung und Machtstrukturen bis hin zu den höchsten Parteizentralen erstrecken.
Immer wieder ist von Korruption und dem großen Einfluß organisierter Kriminalität in Bulgarien die Rede. Was hat die Regierung von Borissow bis dato dagegen getan?
Laykova: Wenn organisierte Kriminalität und staatliche Strukturen ineinander übergehen, wissen wir nicht mehr, wo die Mafia endet und wo der Staat beginnt. Die Staatengruppe gegen Korruption des Europarats (GRECO) stellte fest, daß Spitzenbeamte der Regierung keinem angemessenen Integritätsrahmen unterliegen: Es gebe keinen Ethikkodex für sie, keine Sensibilisierung für Integritätsfragen und keinen Mechanismus für vertrauliche Beratung in ethischen Fragen. Darüber hinaus forderte GRECO mehr Transparenz hinsichtlich der Arbeitsbedingungen von Regierungsbeamten, einschließlich ihrer Vergütung und möglicher Nebentätigkeiten. Der Bericht hebt zudem das Fehlen von Regeln und Transparenz in bezug auf die Zusammenarbeit mit Lobbyisten hervor.
Die GERB ist Mitglied der konservativ-liberalen EVP-Fraktion im EU-Parlament und gilt als prowestlich?
Laykova: Als GERB im Dezember 2006 gegründet wurde, stellte sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel offen hinter die Partei und präsentierte sie als jene politische Kraft, die auch von der Europäischen Volkspartei (EVP) protegiert wurde. Merkel erklärte öffentlich, daß sie Bojko Borissow und der GERB-Partei ihr Vertrauen schenkte und ihn auf vielfältige Weise, einschließlich finanzieller Unterstützung, fördern würde. Zu diesem Zweck wurden Stiftungen ins Leben gerufen, durch die erhebliche Mittel für die Gründung, das Wachstum und die Entwicklung der GERB-Partei flossen. Dennoch kommt die GERB-Partei innerhalb der EVP nicht über eine Statistenrolle hinaus.
Sie sind Mitglied der Partei Wiedergeburt. Westliche Medien bezeichnen Ihre Partei als „prorussisch“. Stimmt das?
Laykova: Wiedergeburt ist keineswegs eine prorussische Partei. Vielmehr handelt es sich um eine bulgarische, national ausgerichtete Partei, die die Geschichte ihres Volkes und Staates respektiert und die Interessen Bulgariens verteidigt. Seit der Gründung des Dritten Bulgarischen Staates im Jahr 1878, die durch Rußlands Beteiligung am Russisch-Osmanischen Krieg, den wir in Bulgarien als Befreiungskrieg bezeichnen, ermöglicht wurde, ist Rußland fest im Bewußtsein der Bulgaren verankert. Diese historische Verbundenheit kann nicht ignoriert werden, und es wäre unmoralisch, sie zu leugnen.
Wiedergeburt – was steht hinter dem Namen?
Laykova: Die Wiedergeburt (Vazrazhdane) ist als politischer Antipode zur GERB etabliert. Obwohl Wiedergeburt erst vor zehn Jahren gegründet wurde, hat sie sich zu einer führenden Kraft in der bulgarischen Politik entwickelt. Wiedergeburt versteht sich als Brücke zwischen den wertvollen Lehren der Vergangenheit und den Herausforderungen der Zukunft, wobei sie die Identität und das kulturelle Erbe Bulgariens zu wahren sucht und gleichzeitig in die Zukunft blickt. Laut Umfragen unterstützen 20 Prozent der Menschen, die angeben, für wen sie stimmen, die Partei Wiedergeburt. Allerdings haben viele Menschen in kleinen Gemeinden Angst, offen zu sagen, wen sie wählen werden, um keine Probleme zu bekommen. Ein Großteil der Stimmen in diesen Gebieten entfällt auf den sogenannten „unternehmerischen Wahlkampf“ von GERB und DPS.
Welche Rolle spielt Bulgarien auf der Migranten-Balkanroute?
Laykova: Bulgarien bildet eine wichtige Außengrenze der EU zur Türkei, die etwa 250 Kilometer lang ist. Während einer Rundreise mit der Partei im März 2023 konnte ich einen Teil dieser Grenze besuchen. Dabei habe ich an vielen Stellen gesehen, daß der Grenzzaun durchtrennt und nur notdürftig geflickt wurde, so daß er ohne großen Aufwand überwunden werden konnte. Migranten versuchen oft, diese Grenze illegal zu überqueren, um nach Bulgarien und damit in die EU zu gelangen. Von Januar bis November 2023 wurden im Landesinneren Bulgariens 18.000 illegale Migranten festgenommen. Die Wiedergeburt hat ein Programm zur vollständigen Kontrolle der bulgarischen Grenze entwickelt. Sollten wir die Regierung Bulgariens übernehmen, wird eine Null-Toleranz-Politik gegenüber illegaler Migration und eine vollständige Kontrolle der bulgarischen Grenzen garantiert.
Die Wahlbeteiligung lag bei der Parlamentswahl im Juni 2024 bei knapp 34 Prozent. Ist dies nicht ein Alarmsignal?
Laykova: Wir haben immer betont, daß unsere wichtigste Aufgabe darin besteht, die Apathie und den Verzicht auf die Wahl durch die bulgarischen Bürger zu überwinden.
Kann es nach der siebten Wahl eine stabile Regierung geben?
Laykova: Die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien bleibt weiterhin hoch, und statt einer Reduzierung gibt es Bestrebungen, ihre Zahl weiter zu erhöhen. Ein Beispiel dafür ist das Auftreten der neuen Partei Velichie im 50. Parlament, die jedoch bald wieder verschwand. Innerhalb der DPS kam es zu einer Spaltung, deren Ausgang weiterhin ungewiß ist. Auch die oppositionelle Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) erlebt derzeit interne Turbulenzen. Nach der Wahl ist Wiedergeburt bereit, mit anderen politischen Kräften auf der Grundlage klarer Prioritäten zu verhandeln: ein Referendum über den Beitritt zur Eurozone und die Nato-Mitgliedschaft Bulgariens, das Ende der Unterstützung für die Ukraine und der Sanktionen gegen Rußland sowie die Neuverhandlung der Bedingungen unserer EU-Mitgliedschaft. Ein bedeutender Erfolg von Wiedergeburt war kürzlich die Verabschiedung eines Gesetzes, das LGBT-Propaganda in Bildungseinrichtungen verbietet. Trotz erheblichem internationalen Druck konnte Wiedergeburt ihre Ziele durchsetzen.
Rada Laykova sitzt für die Partei Wiedergeburt im EU-Parlament. Diese ist Mitglied der EU-Fraktion Europa Souveränen Nationen, der auch die AfD angehört.