Dieser diplomatische Eklat glich fast schon einer Kriegserklärung: „Die deutsche Zeitung Bild veröffentlichte einen revanchistischen Beitrag, in welchem sie stolz die Rückkehr deutscher Panzer nach Rußland verkündet“, twitterte Dmitri Medwedew, stellvertretender Leiter des Sicherheitsrats der Russischen Föderation, vergangenen Freitag. „Als Antwort werden wir alles daransetzen, um die neuesten russischen Panzer auf den Platz der Republik (nach Berlin) zu bringen.“
Dabei galt Medwedew noch vor einem Jahrzehnt als Hoffnungsträger nicht nur der liberalen Kräfte Rußlands, sondern ebenso auf dem diplomatischen Parkett der Großmächte.
Selbst die USA zeigten sich über Kiews Coup mehr als überrascht
Doch mit Beginn des Ukraine-Kriegs erfolgte Medwedews Umschwung in die Radikalität. Und auch sein neuestes verbales Säbelrasseln hatte gute Gründe – denn seit vergangener Woche liegen die Nerven vieler Entscheidungsträger des Kreml blank.
Ursache ist die jüngst angelaufene ukrainische Offensive, die eine historische Zensur mit sich brachte: Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – vom umstrittenen sowjetisch-chinesischen Zwischenfall am Ussuri im März 1969 einmal abgesehen – kämpfen mit der ukrainischen Armee wieder fremde Soldaten auf russischem Terrain.
Am 6. August war es den Ukrainischen Streitkräften (AFU) gelungen, die Grenzbefestigungen der russischen Oblast Kursk zu überwinden und im Überraschungsangriff die Kleinstadt Sudscha zu erobern. Es ist für Moskau das Worst-Case-Szenario dieses Konflikts: Nach fast zweieinhalb Jahren des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine kehren die Bodenangriffe ins eigene Land zurück. Vor russischen Postämtern wehen ukrainische Flaggen, ukrainische Propagandafilme zeigen den Austausch russischer durch ukrainische Ortsschilder.
Allein die psychologische Wirkung solcher Aufnahmen, die im Internet frei kursieren, belastet die Moral der russischen Heimatfront enorm. Dazu hatte der Kursker Gouverneur Alexei Smirnow diesen Montag einzugestehen, die Ukraine habe bereits 28 Siedlungen eingenommen, mehr als 121.000 russische Zivilisten seien auf der Flucht.
Über die tatsächlichen Kriegsziele in dieser Schlacht hält Kiew sich bedeckt, ebenso wie über die beteiligten Truppen. „Die Ukraine beweist, daß sie wirklich weiß, wie man Gerechtigkeit wiederherstellt, und gewährleistet genau den Druck, der nötig ist – Druck auf den Aggressor“, verkündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vergangenen Samstag.
Über das Kampfgebiet hatten die AFU von Beginn an eine komplette Nachrichtensperre verhängt. Im Nebel des Krieges stützen sich unabhängige Militärbeobachter von daher vor allem auf die Erkenntnisse russischer Blogger, die von weiteren Vorstößen von Panzern und Spähtrupps berichten, von chaotischen Defensiveinsätzen unausgebildeter russischer Wehrpflichtiger, auch von der Sichtung deutscher Marder-Schützenpanzer und westlicher HIMARS-Raketenwerfer – sowie vom Aushub eigener Verteidigungsanlagen durch die AFU. Gerade letzteres Detail scheint auf einen längerfristigen Einsatz der AFU auf russischem Boden hinzudeuten.
Ein Einsatz, von dem noch nicht einmal klar ist, ob er vorab mit den westlichen Verbündeten Kiews abgesprochen war. Zumindest das US-Außenministerium dementiert derartige Gerüchte. „Es ist nicht ungewöhnlich, daß die Ukrainer uns ihre genauen Taktiken nicht vorher mitteilen“, betonte US-Außenamtssprecher Matthew Miller am Folgetag des Offensivebeginns. „Das ist ein Krieg, den sie führen.“ Die Nutzung von US-Militärgerät, so Miller, stehe jedoch im Einklang mit den bilateralen Vereinbarungen beider Länder. Schon einen Tag später gab US-Außenminister Antony Blinken die Lieferung weiterer Waffensysteme im Wert von 125 Millionen US-Dollar an die Ukraine bekannt.
Eine weitreichende Offensive, die tief in russisches Gebiet vorzustoßen vermag, halten Analysten derzeit aufgrund der geringen Schlagkraft der AFU für ausgeschlossen. Hierfür erweisen sich die AFU gerade an der Donezk-Front im Osten des Landes als viel zu prekär aufgestellt: Nördlich der Großstadt Donezk sind russische Truppen ungebremst weiter auf dem Vormarsch, drohen derzeit gar mit der Einnahme der Städte Nju-Jork und Torezk.
Offensive verbessert Kiews Verhandlungsposition
Spekuliert wird von daher über den Sinn der ukrainischen Rußlandoffensive als Entlastungsventil der Donezk-Front. Und tatsächlich sollen russische Soldaten und Gerätschaften bereits von Donezk nach Kursk abberufen worden sein.
Ein weiteres – und sehr realistisches – Motiv dürfte der Wunsch Kiews nach stärkeren Verhandlungspositionen sein. Für diesen November hatte Selenskyj einen „vollständig fertigen Plan“ für eine nächste internationale Friedensrunde angekündigt und schon im Juli, eine Woche nach dem Nato-Gipfel, betont: „Ich denke, daß Vertreter Rußlands beim zweiten Gipfel anwesend sein sollten.“
Konfliktbeobachter wie Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations mahnen zwar, daß die AFU im Zweifel ihre letzten Reserven in dieser Offensive verheizen könnten. Doch sollte das Wagnis Kiews aufgehen, könne „am Ende davon ein Abkommen“ stehen, so Gressel im Interview mit dem Spiegel. „Rußland und die Ukraine würden Gebiete austauschen – etwa Kursk gegen die besetzten Gebiete um Charkiw. Und es gäbe eine Art Waffenstillstand.“
Fest steht eines: Die Zukunft der Offensive hängt auf Gedeih und Verderb vom Erfolg der Kursk-Offensive ab. Und deren Verteidigung überantwortete Rußlands Präsident Putin dieser Tage ganz überraschend aus den Händen seines Armee-Generalstabschefs Waleri Gerassimow in jene von Alexander Bortnikow, dem Chef des mächtigen Inlandsgeheimdienstes FSB. Dem russischen Präsidenten, schlußfolgern Beobachter, schwindet das Vertrauen in seine eigene Armeeführung.