Der Aktienmarkt schwankt zwischen Euphorie über US-Zinssenkungen und Panik vor einer Rezession – wobei beides Hand in Hand geht (JF 33/24). Anfang des Jahres erwarteten Beobachter noch sieben Zinssenkungen, was kontinuierlich auf nur eine einzige schrumpfte. Dann kamen die Arbeitsmarktzahlen Ende Juli, die den Yen-Crash auslösten. Jetzt erwarten viele eine Sondersitzung der Zentralbank Fed samt einer nicht turnusmäßigen Zinssenkung.
Kompliziert wird eine Zinsentscheidung durch die US-Präsidentschafts- und -Kongreßwahlen am 5. November: In der Vergangenheit vermied die Fed Zinsschritte kurz vor Wahlen, um nicht den Eindruck politischer Parteinahme zu erwecken. Die Statistiken weisen nach wie vor starkes US-Wachstum aus: real 2,8, nominal 5,8 Prozent im zweiten Quartal. Übersehen wird dabei, daß dieses Wachstum auf Kosten eines Konjunkturprogramms geht, wie man es in Friedenszeiten noch nie gesehen hat. Joe Biden fährt ein Haushaltsdefizit von sieben Prozent. Daß dabei nur ein mickriges Wachstum von weniger als dem Schuldenzuwachs herauskommt, ist kein Zeichen von Stärke.
Gute Wachstumszahlen und trotzdem schlechte Stimmung
Dazu kommen wachsende soziale Spannungen: Besserverdiener haben von der fiskalischen Expansion unter Bidenomics profitiert, während niedrige Einkommen mit den spürbar höheren Lebenshaltungskosten nicht mithalten können. Hinweise darauf finden sich schon länger in den Quartalsergebnissen von Unternehmen. Der Einzelhandelsmarktführer Walmart bemerkte einen deutlichen Kaufrückgang bei niedrigen Einkommen, konnte seine Umsätze aber trotzdem halten, weil höhere Einkommen verstärkt zum Discounter gehen.
Fed-Chef Jerome Powell betonte monatelang, sich nur von Daten leiten zu lassen. Jetzt sitzt er in der Datenfalle. Das Wachstum ist stark und die Inflation, die im Juni bei drei Prozent lag, scheint im Juli wieder leicht zugelegt zu haben. Doch die Arbeitsmarktzahlen deuten auf künftig geringeres Wachstum hin und würden eine Zinssenkung rechtfertigen. Kommt die zu spät, wird Powell für die Rezession verantwortlich gemacht, die sich bereits eingestellt hat, glaubt man der Sahm-Regel. Die ehemalige Fed-Mitarbeiterin Claudia Sahm postulierte 2019, eine Rezession setze ein, sobald der Dreimonatsdurchschnitt der Arbeitslosigkeit um 0,5 Prozent über ihrem Tiefststand der vergangenen zwölf Monate steigt. Dies war im Juli der Fall, und Stagflation ist jetzt ein Risiko.
Dazu kommt ein zunehmender Konsens, daß die Statistikdaten des US-Arbeitsministeriums (Bureau of Labor Statistics/BLS) zu optimistisch sind. Anzeichen dafür gibt es schon länger, denn alternative Datenquellen, wie Anträge auf Arbeitslosengeld der Bundesstaaten oder Zahlen privater Gehaltsabrechnungsstellen, legen eine Wende auf dem Arbeitsmarkt schon im zweiten Halbjahr 2023 nahe. Die BLS-Daten durchlaufen vor Veröffentlichung statistische Modelle, die beispielsweise Firmengründungen und -schließungen theoretisch erfassen sollen, in der Praxis aber nicht immer richtigliegen. Laut Schätzungen von Analysten von Bloomberg könnten so bis zu einer Million Arbeitsplätze statistische Phantome sein. Das wäre, neben den Lebenshaltungskosten, eine weitere Erklärung für die Diskrepanz zwischen den guten Wachstumszahlen und der schlechten Stimmung.
Für den Aktienmarkt stellt sich die Frage, ob eine Zinssenkung ausreichen wird, die negativen Folgen einer schwachen Wirtschaft auszugleichen. Angesichts der hohen Bewertung des Marktes kann man das bezweifeln. Noch ist nicht klar, ob das Marktchaos von Anfang August nur die Folge des dünnen Sommerhandels ist – viele Entscheidungsträger sind im Urlaub – oder ob die Märkte grundsätzlich stärker auf Schwankungen der US-Wirtschaft reagieren. Ein Problem bleiben die hohen Bewertungen der Technologieaktien und daß nur sieben Werte einen großen Teil des Wertzuwachses des S&P-500-Aktienindexes in diesem Jahr ausmachen.
Doch es gibt auch erfreuliche Zahlen: Von Rohstoffen droht keine Inflation. Sie haben in diesem Jahr stark geschwankt und sahen zeitweise inflationstreibend aus. Kupfer war im Mai auf einen neuen Rekord gestiegen, ist inzwischen aber wieder auf das Niveau des Vorjahres gesunken. Auch Öl ist trotz der Nahostkrisen schwach. Öl-Aktien sind einer der Lichtblicke des Aktienmarkts. Trotz eines unspektakulären Ölpreises steigen die Gewinne der Branche. 124,2 Milliarden Dollar an Dividenden wird der Ölkonzern Saudi Aramco in diesem Jahr an seine Anleger ausschütten, das ist zu 97 Prozent der saudische Staat. Die fünf großen westlichen „Superkonzerne“ zusammen (ExxonMobil, Chevron, Shell, TotalEnergies, BP) dürften in diesem Jahr auf einen ähnlichen Betrag kommen, nach 113 Milliarden im Vorjahr.
Öl-Aktien wurden für viele Anleger interessanter als Technologiewerte
Aramco-Chef Amin Nasser wiederholte in der Pressekonferenz die schon länger von der Organisation erdölexportierender Länder (Opec) thematisierte steigende Nachfrage, getrieben durch die Märkte „östlich von Suez“. In diesem Jahr wird die weltweite Nachfrage auf 104,7 Millionen Barrel täglich steigen, 2025 auf 106 Millionen. 2023 waren es noch 101,7 Millionen. Die Welt verarbeite mehr Öl zu Chemikalien, „um die Energiewende zu unterstützen. Man braucht viel Kohlefaser für Solarmodule. Man braucht viele Chemikalien.“ Und weiter: „Wir schätzen, daß zwischen 2019 und 2024 China soviel Produktionskapazität für Propylen zugebaut hat, wie früher in Europa, Japan und Südkorea zusammen bestand.
Die Ölbranche steht vor dem Dilemma, daß die Öffentlichkeit im Westen einen Rückgang des Verbrauchs erwartet, die in Asien hingegen mehr Öl sehen möchte, dies aber nicht durch Klimakleber vermitteln kann. Denkbar ist deshalb, daß sich die Unterinvestitionen der letzten zehn Jahre fortsetzen und die Gewinne der Konzerne auf immer neue Rekorde steigen. Angesichts ihrer günstigen Bewertung sind Öl-Aktien für viele Anleger interessanter als Technologiewerte, deren hohes Wachstum mit extrem hohen Bewertungen einhergeht.
Einer Umfrage von Bloomberg zufolge werden für die EZB bis Ende 2025 sechs Zinssenkungen erwartet. Die nächste in den USA wird mit Spannung erwartet. Die nächste öffentliche Rede Jerome Powells steht für den 23. August beim jährlichen Gipfel der Zentralbanken in Jackson Hole im Kalender. Bis dahin werden die Inflationszahlen für Juli bekannt sein. Kommen die wie erwartet mit drei Prozent oder besser, könnte Powell Zinssenkungen signalisieren.
Ölpreis- und Verbrauchsprognosen der Opec: opec.org/opec_web/en/publications/340.htm
www.bls.gov/bls/newsrels.htm