Das Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ des Publizisten und früheren SPD-Landesministers Mathias Brodkorb über die Praktiken des Verfassungsschutzes (VS) hat viel Aufmerksamkeit und Zuspruch gefunden. Auch in dieser Zeitung wurde es positiv besprochen (JF 13/24). Brodkorb hat das Selbstbild des VS als die sorgende Wächterin der wehrhaften Demokratie gründlich dekonstruiert und nachgewiesen, daß er sich als effektives Repressionsorgan betätigt.
Dieser Effekt ergibt sich insbesondere aus dem Zusammenspiel mit den Medien und sozialen Netzwerken, die das verhängte Extremismus-Stigma – konkret: das Stigma des Rechtsextremismus – umgehend aufgreifen und verbreiten. Damit stehen die Betroffenen am öffentlichen Pranger und werden zum Opfer staatlicher Feindvernichtung. Das angefügte Fragezeichen im Buchtitel kann man ruhig weglassen; der Untertitel: „Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik“ enthält bereits die Antwort.
Was Brodkorb anhand von sechs Fallstudien beschreibt, ist in der Sache nicht neu. Besonders ist die Nüchternheit und Präzision, mit der er die Begriffe und Kategorien, die der Inlandsgeheimdienst nutzt, beim Wort und auseinandernimmt. Er bescheinigt den Geheimdienstlern intellektuelle Defizite, Willkür, Machtarroganz sowie ideologisch und parteipolitisch motivierten Verfolgungseifer. Sie können nicht einmal definieren, was „Extremismus“ überhaupt ist und wo er anfängt.
Bis in die siebziger Jahre sprach man vom „Radikalismus“. Die potentiellen Implikationen, die sich daraus ergaben, empfand der damalige Innenminister Werner Maihofer (FDP), ein Rechtsprofessor und Bürgerrechtsliberaler alten Schlages, offenbar als freiheits- und demokratiegefährdend, weshalb er 1974 dem Verfassungsschutz ins Stammbuch schrieb, „daß politische Aktivitäten oder Organisationen nicht schon deshalb verfassungsfeindlich sind, weil sie eine bestimmte nach allgemeinem Sprachgebrauch ‘radikale’, das heißt eine bis an die Wurzel einer Fragestellung gehende Zielsetzung haben“. Erst wenn sie sich gegen den „Grundbestand“ der Verfassung richteten, seien sie „extremistisch“ und damit verfassungsfeindlich.
Radikal im Sinne Maihofers wäre heute die Frage, ob der Parteienstaat, der sich in der Bundesrepublik herausgebildet hat, ohne zwingend vom Grundgesetz bestimmt worden zu sein, in der Lage ist, repräsentative Volksvertretungen und eine befähigte politische Klasse hervorzubringen. Ob das Ergebnis nicht vielmehr in einer sich selbst reproduzierenden Kaste – einer Oligarchie – und in einer Negativauswahl – einer Ochlokratie – besteht. Für Innenministerin nancy Faeser und VS-Chef Thomas Haldenwang hätten die Fragesteller bereits die Grenze zur „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ und damit zum Extremismus überschritten.
Es handelt sich nicht nur um persönliche Marotten. Brodkorb zitiert aus dem „Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste“ (2017): „Wenn Extremismus nur ein Synonym für die zielgerichtete Verwirklichungsstrategie radikaler Ansichten ist, aber bereits radikale Ansichten inhaltlich extremistisch sind“, sei nicht einzusehen, weshalb man sie dulden soll. Der VS selbst ist in der Tat der Auffassung, daß sich im Radikalismus bereits „eine überspitzte, zum Extremen neigende Denk- und Handlungsweise“ äußert. Brodkorb hat beim Bundesamt für Verfassungsschutz nachgefragt, was man dort unter Radikalismus versteht, und die Antwort erhalten: „Der Begriff Radikalismus ist kein klar definierter ‘Arbeitsbegriff’ der Verfassungsschutzbehörden, da dieser Bereich der politisch-gesellschaftlichen Aktivitäten nicht in den Aufgabenbereich der Verfassungsschutzbehörden fällt. Er dient lediglich zur Abgrenzung zum Bereich des Extremismus. Eine fachliche Definition durch das BfV kann daher nicht erfolgen und ist auch nicht erforderlich.“
Das ist zum einen falsch. Der VS nimmt den Radikalismus sehr wohl in den Blick, und zwar als Semi-Extremismus, der fließend in den verfassungsfeindlichen Extremismus übergeht. Seine Weigerung, sein Observationsgebiet klar zu definieren, bedeutet zum anderen im Umkehrschluß: Es liegt ganz in seinem beziehungsweise im Belieben seiner Auftraggeber, was er als radikal und – da die Grenze fließend ist – extremistisch und verfassungsfeindlich einstuft. Brodkorb hält diese Praxis für tendenziell totalitär, er verweist auf Orwell, auf die Praktiken der Stasi und kommt zu dem Schluß, daß der gesamte Laden unreformierbar ist und aufgelöst gehört.
Dazu wird es natürlich nicht kommen. Trotz der positiven Resonanz hat das Buch keine politische Debatte ausgelöst. Der VS hat seine Praktiken genausowenig geändert wie die Medien. Auch für Zeitungen, die das Buch zustimmend rezipiert haben, bleibt der VS eine unanfechtbare Instanz und unwidersprochen zitierwürdige Quelle.
Das ist kein Wunder, denn der Verfassungsschutz gehört zur DNA der Bundesrepublik. Brodkorb hat ausdrücklich darauf verzichtet, die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des VS ausführlich darzustellen und zu analysieren. Er beschränkt sich auf das Klischee, daß die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ mit der Etablierung des VS die junge Demokratie vor einem virulenten Nazismus hätten schützen wollen. Er zitiert aus der berühmten Rede Carlo Schmids 1948 im Parlamentarischen Rat. Schmid hatte eine „immanente Schranke“ der Grundrechte markiert, hinter der die Selbstverteidigung des demokratischen Staates, die „wehrhafte Demokratie“, beginne. Allerdings, so Brodkorb, hätten die alliierten Sieger den Deutschen noch ein wenig demokratische Gehhilfe geleistet und ihnen mit auf den Weg gegeben, daß Geheimdienste „keine Polizeibefugnisse“ haben dürften.
Das ist eine sehr idealistische Darstellung. Schmid hatte bei der Gelegenheit noch anderes gesagt. Zum Beispiel wies er in aller Offenheit darauf hin, „daß fremde Mächte innerdeutsche Verhältnisse (…) auf deutschem Boden nach ihrem Willen gestalten wollen“. Darüber zu jammern sei sinnlos, jeder wisse, warum es dazu gekommen sei. „Es liegt hier ein Akt der Unterwerfung vor (…) eine Art von negativem Plebiszit, durch das das deutsche Volk zum Ausdruck bringt, daß es für Zeit auf die Geltendmachung seiner Volkssouveränität zu verzichten bereit ist.“
Deshalb konnten auch die Nachkriegsgeheimdienste keine Organe der nationalen Souveränität sein, sie wurden kontrolliert und angeleitet von den Alliierten. Erst wenn man diese historischen, politischen und ideengeschichtlichen Hintergründe und Absichten kennt, kann man das Wirken des Verfassungsschutzes ganz erschließen. Der Historiker Josef Foschepoth hat in seinem Buch „Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik“ (2012) dargestellt, daß die Alliierten wesentliche der seit 1945 eingeführten Kontroll- und Zensurmaßnahmen mit Gründung der Bundesrepublik sogar noch ausbauten, und zwar mit Duldung und Unterstützung deutscher Politiker. Laut Foschepoth nahm man es mit der Trennung von Geheimdiensten und Polizei nicht sehr genau. Exekutivmaßnahmen „der Polizei (wurden) im Benehmen mit dem Verfassungsschutz durchgeführt“. Der VS arbeitete wie ein ganz normaler Geheimdienst mit Spionage, Spionageabwehr usw. unter der Anleitung und Kontrolle westalliierter Sicherheitsdirektoren. BfV-Präsident Hubert Schrübbers sprach 1963 von einem „einheitlichen nachrichtendienstlichen Organismus“.
In den Augen der Amerikaner sei die „dauerhafte Beschränkung der Souveränität und Autonomie“ der Bonner Republik „nötig“ gewesen, um einerseits die Westbindung „für den Westen überhaupt erträglich“ und andererseits aus der „alten Bundesrepublik“ einen zuverlässigen „Frontstaat“ zu machen. Adenauer war die alliierte Bevormundung durchaus recht, weil sie seiner auf Westintegration ausgerichteten Politik Nachdruck verlieh. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) spielte bei der Koordination der Überwachung eine zentrale Rolle.
Der Jurist Josef Schüßlburner, der sich in zahlreichen Büchern – zu nennen ist vor allem das 2004 erschienene „Demokratie-Sonderweg Bundesrepublik. Analyse der Herrschaftsordnung in Deutschland“ –, Broschüren und Aufsätzen mit dem Verfassungsschutz beschäftigt hat, sieht sogar eine „alliierte Überverfassung“ am Werk. Die USA hätten unter dem Schlagwort der „Demokratisierung auf die Stärkung bestimmter Parteien“ hingewirkt und die Schwächung von „Parteiformationen (betrieben), unter deren Hegemonie Deutschland im 19. Jahrhundert zu einer maßgeblichen Macht geworden war, nämlich gegen Nationalliberale und Konservative“. Zu diesem Zweck habe sie die „Verhinderung eines weiteren Nazismus als Vorwand“ genutzt.
In den siebziger Jahren standen vor allem linke Aktivisten und Organisationen im Fokus. Brodkorb stellt zwei Fälle vor: die Langzeitobservationen des Juristen Rolf Gössner und des Gewerkschafters Bodo Ramelow. Beide standen dem kommunistischen Milieu der DKP nahe, Gössner pflegte zudem intensive Kontakte in die DDR. Nun waren damals die Observationen aus Sicht des Verfassungsschutzes und seiner Partner im Ausland absolut plausibel, denn die extreme Westlinke war nato- und amerikakritisch ausgerichtet und stellte im Frontstaat Bundesrepublik auch eine „Partei der DDR“ (Ernst Nolte) dar; sie bildete im Konfliktfall ein Sicherheitsrisiko. Die nationalkonservative Rechte war inzwischen domestiziert. Sie hatte sich weitgehend mit der CDU/CSU arrangiert, die nicht nur der Westbindung huldigte, sondern sich über die (zivil)religiöse Deutung des Holocaust sukzessive dem Antifaschismus der Linken annäherte und sich vom Antitotalitarismus verabschiedete.
Mit dem Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks bestand aus Nato- und US-Sicht keine Gefahr mehr, daß sich die Linke in Westdeutschland im Ernstfall als Agent oder nützlicher Idiot des Ostblocks erweisen würde. Statt dessen war eine neue deutsche Unwägbarkeit entstanden. Sie lag darin, daß ein wiedervereintes, in die Souveränität entlassenes, durch Katastrophen geläutertes Deutschland als „selbstbewußte Nation“ aus der Mündelposition heraustreten und eine eigene Gestaltungsmacht in Europa beanspruchen würde.
Jetzt erwies sich die Linke, die inzwischen starke antinationale Affekte hegte, als ausgesprochen nützlich. Ihre Multikulturalismus-Romantik, ihr Beharren auf offenen Grenzen nebst einem extensiven Asylrecht, ihre Neigung, politische und staatsrechtliche Fragen zu moralisieren, haben viel dazu beigetragen, das verunsicherte, mit der neuen Lage überforderte Land vollständig zu paralysieren und es als politischen Akteur zu neutralisieren. Rolf Gössner wurde später in Bremen zum Verfassungsrichter berufen und Bodo Ramelow amtiert in Thüringen als Ministerpräsident. 2015 erlebte er nach seinen eigenen Worten den schönsten Tag in seinem Leben, als ein Zug mit „Schutzsuchenden“ in Thüringen eintraf. Er begrüßte die Ankömmlinge auf arabisch und wollte vor Freude weinen.
Gefahr wurde nun aus einer anderen Richtung erwartet. Man fürchtete den Auftritt einer nüchternen, interessengeleiteten Realpolitik. Die bescheidenen Vorstöße und Überlegungen, die es gab, wurden als protofaschistisch verdammt. Umgehend machte sich der Verfassungsschutz den Kampf der Linken „gegen Rechts“ zu eigen. Es ging und geht darum, den Widerstand gegen den übereilten Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte zu kriminalisieren. Es genügte bereits, dezidiert gegen den 1993 beschlossenen Maastricht-Vertrag und die Abschaffung der D-Mark zugunsten einer Gemeinschaftswährung Stellung zu beziehen, um in den Ruch der Verfassungsfeindlichkeit zu geraten. Letztlich knüpfte der VS an die Praktiken und Motivik aus den fünfziger Jahren an.
Schüßlburner zufolge wird „den Deutschen die normale Demokratie eines offen und frei ausgetragenen Links-Rechts-Antagonismus als Kennzeichen politischer Freiheit verwehrt“. Mittels Propaganda, Geheimdienstrepression und Drohung mit dem Parteiverbot würden jene, die auf nationalen Interessen beharren, „tendenziell ausgebürgert“, während gleichzeitig die „wandernden Anhänger einer traditionell fremden Religion“ oder extrem nationalistische Türken „integriert“ werden sollen. „Eine Politik, die nicht einmal die eigenen ‘Rechtsextremisten’ integrieren kann, glaubt sich befähigt, Weltreligionen zu integrieren“, bringt Schüßlburner den Irrsinn auf den Punkt. Seit einigen Jahren führt der Verfassungsschutz „Islamfeindlichkeit“ als verfassungsfeindliches Verdikt auf. Im deutschen Interesse liegt das gewiß nicht. In wessen Interesse dann?
Um die VS-Praxis gerecht zu würdigen, ist die juristische und sprachlogische Hermeneutik unabdingbar, aber sie erklärt nicht alles. Genauso wichtig ist es, die politischen und historischen Kontexte sowie den „einheitlichen nachrichtendienstlichen Organismus“ zu analysieren, deren Teil der Inlandsgeheimdienst ist. Aus der Beschränktheit und dem ideologischen Furor einzelner formt sich, wenn die Umstände danach sind, ein monströser Behemoth.