Die Restriktionen der Corona-Zeit haben auch das Hotelleriewesen arg gebeutelt: Im Jahr 2020 wurden allein in Deutschland fast doppelt so viele Reisemobile neu zugelassen wie im Vorjahr. Auch Airbnb, jene Vermittlung schon längst nicht mehr überwiegend privater Wohnungen, kapert seit geraumer Zeit potentielle Hotelgäste. Nun mag es ein besonderes Gefühl von Freiheit und Flexibilität in sich tragen, stets seine eigene Wohnstatt mit sich zu führen. Auch das Bewohnen eines fremden Appartements kann dazu dienen, sich auf Zeit in einen anderen Alltag einzufühlen. Eines aber verpaßt man in beiden Fällen ganz gewiß: das „Leben im Hotel“.
Unter diesem Titel hat die Kulturjournalistin Marion Löhndorf, Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung in London, ein lesenswertes Essay geschrieben, in dem sie das Hotel als gesellschaftliche und nicht zuletzt kulturelle Institution aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und in seinen zahlreichen Facetten zum Glänzen bringt.
In ihrem Prolog zitiert sie einen langjährigen Geschäftsführer einer Hotelkette mit einer Antwort auf die Frage, was überhaupt ein gutes Hotel ausmache: „Wenn man sich wie zu Hause fühlen kann. Dann kommt man zurück. Denn niemand fühlt sich gern fremd.“ Zudem sei Einzigartigkeit gefragt. Dies gelte gleichermaßen für Luxusherbergen wie für einfache Häuser. „Das Hotel ist ein Möglichkeitsraum“, schreibt Löhndorf. „Immer wieder kommt eine gemischte Gesellschaft von Fremden zusammen, vom Zufall zusammengeweht, manches könnte passieren, nichts ist vorhersehbar.“
Hilfreiche Geister vom Portier bis zum Zimmermädchen
Das erste Gasthaus mit komfortablem Ambiente wurde 1774 in London eröffnet; seither machte das Grand Hotel Karriere: Insbesondere das erstarkende Bürgertum liebte dessen kultivierte und luxuriöse Atmosphäre, die den Herrschaftssitzen des Adels entlehnt war, und so begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Blüte des Hotelbaus. Übernommen wurde auch die Hierarchie der hilfreichen Geister vom Portier bis zum Zimmermädchen – im Hotel hat alles seinen Platz. Das gibt den Gästen den Freiraum, den sie suchen, denn sie haben anderes zu tun, als sich um die alltäglichen Belange zu kümmern. Das Hotel ist der Ort, an dem man sich vom gewohnten Trott, vielleicht auch von seiner gewohnten Identität lösen kann, und wird so – bisweilen – zum Erfüllungsraum lang gehorteter Sehnsüchte: „Dial 0 for anything.“ Hier findet man die nötige Diskretion für all jene Liebesaffairen, Geheimtreffen und wilden Ausschweifungen, die das Renommee eines berühmten Hotels nur noch steigern. Das Hotel bietet eine Bühne sowohl für intime Kammerspiele wie auch für das ganz große Drama.
Nicht von ungefähr ließen sich unzählige Autoren von Thomas Mann über Vicky Baum bis hin zu Benjamin von Stuckrad-Barre vom Leben im Hotel inspirieren, bildet es doch gesellschaftliches Treiben in einem perfekten Mikrokosmos ab. Ebenso nutzt der Film Hotels als facettenreichen Schauplatz – mal als mondänen Hintergrund, als Ort ironisch-nostalgischer Rückschau (Wes Anderson: Grand Budapest Hotel) oder wahnsinnig machenden Alptraum endloser verwaister Gänge (Stanley Kubrick: Shining).
Doch Löhndorf widmet sich nicht nur dem mondänen Luxushotel, jenem „sorgfältig kuratiertem Traum“, sondern berichtet auch von pragmatisch-beigefarbenen Businesshotels, die sich überall auf der Welt gleichen – inklusive fest verschraubtem Föhn, denn nicht immer kommt es hier zu gewinnbringenden Abschlüssen. Entschleunigtes Wohlleben versprechen unzählige biozertifizierte Wellnesshotels, in denen man seine Awareness schulen kann, während Erlebnishotels das wahre Abenteuer versprechen – mit Sicherheit. Nicht zu vergessen die Casino-Hotels von Las Vegas, jenem schrill leuchtenden Jahrmarkt zwischen verrückt-größenwahnsinnigen Bauten, in denen sich die Gäste in einer immerwährenden Tag-und-Nacht-Gleiche bewegen auf der Suche nach dem schnellen Glück.
Durchaus überraschend erkennt Löhndorf Parallelen zwischen dem Hotel und Krankenhäusern, ja selbst Gefängnissen – sollte doch der Aufenthalt in ersterem auf freiwilliger, möglichst sogar vergnüglicher Basis angetreten werden. Für Menschen auf der Flucht allerdings wurden Hotels und Pensionen zu Orten eines ungewollten Transits, von denen eine Vielzahl von Briefen und Erinnerungen aus den Zeiten des Nationalsozialismus und Faschismus berichten. Daß die Menschen dort nicht immer in einem sicheren Hafen ankamen, erzählen auf sehr unterschiedliche Weise die Geschichten zweier Emigrantenhotels: das Lutetia in Paris sowie das legendäre Lux in Moskau. Vor allem in letzterem gerieten die vor Verfolgung Schutz suchenden vom Regen in die Traufe.
Hotels fungieren als Drehtür zwischen privatem und öffentlichem Raum; nicht zuletzt kann man hier der Welt mit großer Geste sein politisches Engagement präsentieren. Das taten beispielsweise John Lennon und Yoko Ono im Hilton Amsterdam, als sie ihre Hotelsuite tagelang für ein mondänes Bed-in im Namen des Friedens nutzten, bei dem sich Künstler und Journalisten bei kühlen Drinks und haufenweise Rauchwerk der eigenen Progressivität versicherten. (Das Aufräumen übernahm hernach jemand anderer, wozu wäre man sonst im Hotel?)
Edward Snowden buchte ein Hotel in Hongkong
Weitaus weniger luxuriös und gänzlich ohne Happening-Charakter, dafür mit brisanterem Inhalt verliefen knapp 45 Jahre später die Gespräche im Mira Hong Kong: Hier informierte Edward Snowden ausgewählte Journalisten über NSA-Geheimdokumente und enthüllte ein globales System der anlaßlosen Massenüberwachung. Die eine Woche andauernden Interviews wurden von der Filmemacherin Laura Poitras begleitet; ihr Dokumentarfilm „Citizenfour“ vermittelt die prekäre Situation des Whistleblowers in einem beklemmend gesichtslosen Setting. Denn rasch wurde das neutrale Hotel, als anonymer Schutzraum aufgesucht, zu einer regelrechten „Paranoiamaschine“ (Löhndorf).
In ihrem Essay „Leben im Hotel“ berichtet Marion Löhndorf von exorbitanten Festen, perfekt organisierten Selbstdarstellungen und besinnlichen Ruhepolen, aber auch von Verfolgten, Entwurzelten und politisch motivierten Attentaten. Der schmale Band kann und will weder historischer Abriß noch soziologische Analyse sein. Vielmehr bietet er eine höchst abwechslungsreiche Reise durch das Wesen des Hotels, auf der die Autorin mittels ihrer eleganten Sprache vergangene Begebenheiten mit persönlichen Beobachtungen verknüpft – niemals wertend, dafür auf amüsante, bisweilen auch entlarvende Weise erzählend. Ein schönes Plädoyer für einen alten Sehnsuchtsort voll ungezählter Möglichkeiten, der hoffentlich noch lange erhalten bleibt.
Fotos: John Lennon und Yoko Ono bei ihrem Bed-In im Hilton-Hotel in Amsterdam (März 1969): Das Paar verbrachte einen Teil seiner Flitterwochen mit einer Aktion für den Weltfrieden, Hotel Lutetia in Paris: Das 1910 errichtete Haus diente in den dreißiger Jahren deutschen Emigranten als Treffpunkt
Marion Löhndorf: Leben im Hotel, zu Klampen Verlag, Springe 2024, gebunden, 104 Seiten, 14 Euro