Dìdi“ ist das chinesische Wort für „kleiner Bruder“. Ein solcher ist Chris Wang (Izaac Wang), der Sohn einer nach Amerika emigrierten taiwanesischen Familie. Und als solcher wird er von der Oma, der Mutter und der Schwester, die mit ihm im kalifornischen Fremont unweit von San Francisco leben, auch vorzugsweise bezeichnet. Wie wenig ihm das recht ist, beweist der Name, unter dem er E-Mails und Kurznachrichten via Internet versendet: Hier nennt er sich „bigwang“, also „großer Wang“.
Chris Verhältnis zur älteren Schwester Vivian (Shirley Chen), die auf dem Absprung an die Uni ist, prägen Revierkämpfe. Seiner Mutter Chungsing (Joan Chen) gegenüber, einer Künstlerin, verhält der Junge sich oft respektlos und unverschämt. Der Vater ist nie zu sehen, weil er fern von der Familie das Geld verdient, ein Modell, das in China weit verbreitet ist und das die Familie mit importiert hat. Darunter leidet der Heranwachsende. Auch fehlt ihm die harte Hand, die ahndet, was seine Mutter unter lautstarkem Protest der Oma durchgehen läßt. Letztere spielt sich, ganz traditionellen asiatischen Rollenmustern verpflichtet, als Matriarchin auf, was zu Reibereien führt, die Chris zusätzlich aus dem Gleichgewicht bringen: An welcher Kultur soll er selbst, der sich als Halbasiate versteht, sich orientieren, mit welchen Idealen durchs Leben gehen?
Der Junge begreift, daß Blut doch dicker ist als Wasser
So verbringt der 13jährige unnötig viel Zeit damit, seine große Schwester zu ärgern, etwa indem er in die Flasche mit ihrer Hautlotion pinkelt, und sich im Kreis von Gleichaltrigen die Hörner abzustoßen. Nach und nach erschließt er sich neues Terrain, macht dabei aber wie ein Fohlen, das immer wieder an einen elektrifizierten Weidezaun stößt und sich Stromschläge abholt, eine Reihe irritierender Erfahrungen. Das allgegenwärtige Internet spielt dabei eine zentrale Rolle: Chris schreibt sich regelmäßig mit seinen Freunden, unter denen der narzißtische Fahad, ebenfalls ein Junge mit Migrationshintergrund, ganz weit oben steht. Doch der liebt es vor allem, sich selbst zu inszenieren, auch auf Kosten anderer. Im Internet informiert Chris sich auch über die entzückende Madi (Mahaela Park), die mit ihm die asiatische Herkunft teilt. Über ihr Konto bei Mark Zuckerberg informiert er sich über ihre Lieblingsfilme und kann so prompt mit der richtigen cineastischen Präferenz bei ihr punkten. Madi findet Gefallen an dem zuweilen etwas rauflustigen, ansonsten aber eher schüchternen Jungen. Aber dann werden ihre Avancen dem Jungen doch etwas zu forsch. Er geht wieder auf Distanz. Doch auch das fühlt sich irgendwie nicht richtig an.
Neue Freunde und die Anerkennung, nach der er sich sehnt, findet er schließlich in einer Skateboard-Gruppe, die sein Talent fürs Videofilmen erkennt und ihm das Ehrenamt anträgt, ein paar schicke Aufnahmen von ihren Kapriolen ins Netz zu stellen. Aber die Jungs sind älter und reifer als Chris, was bald als Entfremdungsfaktor zu wirken beginnt. Irgendwie hat er das Gefühl, alles zu ruinieren, was er anpackt. So beschreibt er es in einer Internetnachricht selbst. Als Vivian sich Richtung Studium verabschiedet und die Oma im Garten stürzt, begreift Chris, daß Blut doch dicker ist als Wasser. Daß Regisseur Sean Wang auch selbst zu dieser Erkenntnis gekommen ist, beweist sein für den Oscar nominierter dokumentarischer Kurzfilm „Oma und Oma“ (2023) über seine beiden Großmütter. Eine von ihnen ist auch in „Dìdi“ mit von der Partie: Chang Li Hua, 86 Jahre jung, spielt Chris Wangs matriarchalisch-dominante Großmutter.
„Süßer Vogel Jugend“ ist der Titel eines – ebenfalls verfilmten – Theaterstücks von Tennessee Williams. Eher das Attribut „bittersüß“ charakterisiert die Jugend des „kleinen Bruders“, eine Figur, in die Autor und Regisseur Sean Wang ein ganzes Stück von sich selbst hineingepackt hat. „Dìdi“, der erste Spielfilm des Kaliforniers mit chinesischen Wurzeln, wurde dieses Jahr bei seiner Premiere auf dem Sundance Film Festival, dem Stelldichein der unabhängigen Produzenten, von Kritik und Publikum begeistert aufgenommen und gewann den U.S. Dramatic Audience Award.
„Dìdi“ gestattet einen entlarvenden Einblick in die Lebenswirklichkeit und die prägenden Erfahrungen der Generation Z und weiß als stimmige Milieu- und Charakterstudie sein Publikum sehr wohl zu fesseln.
Foto: Chris Wang (Izaac Wang) und Madi (Mahaela Park): Ihre Avancen werden dem Jungen zu forsch
Kinostart ist am 15. August 2024