Es sei eine „amerikanische Entscheidung“ gewesen, erklärte der deutsche Bundeskanzler beim Jubiläumsgipfel der Nato in Washington. Olaf Scholz (SPD) meinte die Entscheidung, neue US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren. Also offenbar keine deutsche Entscheidung, keine deutsch-amerikanische, keine Nato- und schon gar keine EU-Entscheidung.
1979 beim Nato-Doppelbeschluß war dies noch anders: Damals war die Initiative von deutscher Seite ausgegangen, genauer gesagt von Kanzler Helmut Schmidt (SPD). Der hatte sie gegen anfänglichen Widerstand von amerikanischer Seite vorangetrieben. Die jetzige Washingtoner Raketenentscheidung erinnert eher an eine andere, aktuellere Entscheidung: die souveräne Mißachtung des US-Verteidigungsministers, anstelle der deutschen Regierung selbst zur internationalen Ukraine-Unterstützungskonferenz in Deutschland/Ramstein einzuladen.
Stimmt also die Aussage des unlängst verstorbenen Wolfgang Schäuble, Deutschland sei nach 1945 nie wieder völlig souverän gewesen? Demnach also auch nach Wiedervereinigung und Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht? Zwar hieß es in Washington ebenfalls, das Thema sei seit einiger Zeit gemeinsam besprochen worden. In welchem Umfang, in welchem Rahmen und mit welchen Positionen, blieb dabei offen. Jedenfalls sollen die neuen Raketen diesmal konventionell bestückt und, wie die Deutsche Atlantische Gesellschaft mitteilte, „zunächst periodisch, später dauerhaft in Deutschland stationiert“ werden. Nur in Deutschland.
Sie sollen dort der US-Armee zur Verfügung gestellt werden. Später sollen dann in Europa ähnliche, nichtamerikanische Flugkörper entwickelt werden. Auffällig ist jedenfalls der Unterschied zwischen dieser Stationierungsentscheidung und der aktuellen US-Politik in Ostasien, genauer gegenüber Japan und Südkorea. Dort werden keine US-Mittelstreckenflugkörper stationiert. Statt dessen kauft Japan in den USA 1.000 Mittelstrecken-Marschflugkörper für die eigene Armee und Südkorea entwickelt ballistische Mittelstreckenraketen für die eigene U-Boot-Flotte. In beiden Fällen bleiben die Waffen aber in der Verfügungsgewalt der jeweiligen Länder.
Nahezu gleichzeitig veröffentlichte ein deutsches Militärmagazin den Hinweis, daß nach jüngster Entscheidung der Ampel-Regierung die deutsche Bundeswehr nach mehr als zehnjähriger bewußter Verhinderung jetzt doch mit Drohnen ausgerüstet werden soll, allerdings nur mit Defensivdrohnen, nicht mit Angriffsdrohnen. Wie beide Entscheidungen, die deutsche und die amerikanische, zusammenpassen, erschließt sich nicht. Sind Offensivwaffen also nur in US-Hand sinnvoll?
Repräsentativ scheint für die Berliner Koalition aber die Bewertung eines Militärmagazins zu sein, daß es bei der Stationierung von Mittelstreckenraketen „egal (sei), ob es sich um US-Marschflugkörper oder eigene handelt„. In Japan und Südkorea sieht man dies deutlich anders. Und offenbar hat man auch gute Gründe dafür.
Die von Bundeskanzler Scholz vor zwei Jahren ausgerufene „Zeitenwende“, soviel ist klar, leidet bis heute nicht nur unter jahrelangen Verzögerungen und strukturellen Unfähigkeiten. Sie bezieht sich auch und vor allem auf eine Reorganisation der Bundeswehr. Und da geht es in erster Linie um Geld und Waffen, weniger um Zukunftsfähigkeit oder gar um die Umsetzung eines Konzeptes. Erstmals allerdings um so etwas wie „Kriegstüchtigkeit“, womit nicht zuletzt eine gesellschaftliche Einstellungsänderung gemeint sein dürfte, so daß inzwischen sogar Bundeswehroffiziere an deutschen Schulen willkommen sind.
Es scheint, daß sich Deutschland auf eine Rolle als Nato-Aufmarschgebiet und Logistikdrehscheibe kapriziert. Die Bedeutung, die man in Berlin einem hier initiierten europäischen Luftabwehrsystem zuschreibt, könnte dafür sprechen. Weit weniger Priorität scheint dagegen die Steigerung der Kampfkraft des deutschen Heeres zu genießen.
Dafür müßten sich die Regierung und vor allem das Verteidigungsministerium mit den Bedingungen für eine robuste Kampfkraft und damit auch mit dem Konzept der „Inneren Führung“ befassen, das vor allem unter dem Schlagwort vom „Staatsbürger in Uniform“ bekannt ist. Weniger bekannt ist, daß sich auf diesem Felde zahlreiche Aktivisten tummeln, denen es vor allem auf Diversität, Inklusion, Frauenförderung, Verfassungspatriotismus, Kampf gegen Rechts usw. ankommt, nicht auf Kampfkraft. Die erfordert nämlich ganz andere Tugenden, die aber gesellschaftspolitisch allenfalls noch zu Zeiten einer Fußballeuropameisterschaft höher im Kurs stehen, etwa wenn ein Nachrichtensender dann ausnahmsweise von „Disziplin, Mut, Fleiß, Pünktlichkeit Ordnungssinn, Widerstandskraft“ als deutschen Tugenden schreibt. Mehr dazu wäre beispielsweise bei Martin van Crevelds Ausführungen über Kampfkraft erfahrbar, doch das wären dann womöglich falsche Traditionen: Mehr „toxische Männlichkeit“ womöglich?!
Das Problem reicht jedoch weiter: Der von der Ampel-Regierung vorgelegten „Nationalen Sicherheitsstrategie“ wurde selbst von einem wohlwollenden, regierungsnahen Thinktank lediglich die Bewertung „auf aktuellem tagespolitischen Niveau“ zuerkannt. Auch ein Professor der Führungsakademie der Bundeswehr kam jüngst zu dem Ergebnis, daß die Zeitenwende in den Köpfen ausgeblieben sei, weil spezifische Berliner Denkmuster zum passiven Beobachten statt zum aktiven Verändern verführen und so eine strategische Neuausrichtung verhindern.
Wenn man aber außer Innenpolitik, feierlichen Solidaritätserklärungen und internationalem Moralisieren nichts kennt, könnte selbst die beste Regierung keine realistischen Ziele definieren und dann auch keine Strategie zur Erreichung dieser Ziele ausarbeiten. Es reichte ja bisher nicht einmal zur Einrichtung eines von vielen Experten seit langem geforderten „Nationalen Sicherheitsrates“, der sich mit solchen Fragen beschäftigen müßte und könnte. Das scheiterte am Ressort-Egoismus der Ampel-Koalition, und somit bleibt alles wie gehabt. Hauptsache, es reicht zur Profilierung in der deutschen Öffentlichkeit. Die Neue Zürcher Zeitung kam deshalb zu der Diagnose: „Während Deutschland seine energiepolitischen Träume mit viel Geld vorantreibt, verläßt es sich bei außenpolitischen Konflikten und in der Landesverteidigung auf seine Nato-Verbündeten“, also kaum auf sich selbst. Dies wird in Zukunft nicht reichen, wie beispielsweise erste Stellungnahmen des neuen US-Vizepräsidentschaftskandidaten von Donald Trump ahnen lassen.
Zusammen mit der Verschärfung internationaler Spannungen hin zu einem neuen kalten Krieg, für den der Ukraine-Krieg ein Beispiel ist, und dem beginnenden Abbau internationaler Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und damit der Deglobalisierung zeichnen sich immer deutlicher die Konturen einer multipolaren Welt ab mit ihrer Betonung nationaler sicherheitspolitischer Prämissen. Denn die unilaterale, amerikanische Epoche nach dem Zerfall der Sowjetunion ist vorbei. Mit China und dem wiedererstarkten Rußland sind es jetzt zwei Kontrahenten, die die USA im Blick haben. Die Unfähigkeit der Berliner Politik, sich darauf einzustellen, ist ein schwerwiegendes und wachsendes Problem für Deutschland. Andere Länder wie Japan und Südkorea sind da weiter.
Auch in der Europapolitik verschärfen sich jahrzehntelang ignorierte und weiter wachsende Probleme. Die von deutscher Seite bewußt ignorierten Verletzungen von Maastricht-Vertrag und Stabilitätsvertrag durch Partnerländer, einschließlich des Schuldenverbots der EU, sollen jetzt noch durch weitere Amtsanmaßungen der EU-Kommission auf den Verteidigungsbereich ausgedehnt werden, was vor allem zu einem weiteren Umverteilungstopf führt.
Bereits vor Jahren hatten deutsche Politik- und Wirtschaftsprofessoren in einer Festschrift über die „Krise der europäischen Integration“ gewarnt, die Kräfteverhältnisse nach dem Brexit würden sich immer mehr hin zu Umverteilung und Protektionismus verschieben. Ausbreiten würde sich statt fiskalischer Vernunft ein europäischer Etatismus nach französischem Vorbild, bei dem Umverteilung das Ziel sei. Diese Umverteilungsunion bedeute eine Verarmungsstrategie, wie der ehemalige Präsident des ifo Instituts warnte. Und die geht insbesondere auf Kosten Deutschlands.
Am Beispiel der EU wird auch deutlich, wie dem Bürger Propaganda als Politik verkauft wird. So erklärte Bundeskanzler Scholz vor kurzem auf die Frage nach der Durchsetzung deutscher Interessen in der EU pauschal ablehnend: „Es geht ja um europäische Interessen aus meiner Sicht.“ Da stellt sich dann doch die Frage, wie naiv ein deutscher Bundeskanzler sein darf. Offensichtlich hat er das Buch seines Parteifreundes Klaus von Dohnanyi über „Nationale Interessen“ entweder nicht gelesen oder schlichtweg ignoriert.
Daß er damit gewaltig auf einem typisch bundesrepublikanischen Holzweg ist, zeigt ein Beispiel: Bereits während eines früheren EU-Wahlkampfes hieß es in Paris: „Frankreich wird stärker durch Europa“, während der Slogan in Deutschland lautete: „Europa lohnt sich für uns alle.“ Während also im einen Falle Frankreich an erster Stelle stand und Europa an letzter, wurde hier auch der Sinn deutlich: Frankreich werde stärker. Ganz anders der deutsche Slogan: Europa kam an erster Stelle, dann der Verweis auf ungenannte Vorteile („lohnt sich“) und letztendlich ein amorpher Verweis auf „uns alle“, wer immer damit gemeint war.
Festzuhalten ist: Schon vor Jahren kamen deutsche Professoren zu der Feststellung, daß Deutschland nicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch wirtschaftlich und finanziell „von einer eigenständigen Politik Abstand genommen habe“. Vor diesem Hintergrund sind Aussagen wie die des Bundeskanzlers und des SPD-Parteivorsitzenden, Deutschland müsse international mehr Verantwortung übernehmen, ja gar „Führungsmacht“ in Europa werden, nur noch mit Galgenhumor zu ertragen.
Und wenn dann der Präsident eines viel kleineren europäischen Landes wie der ungarische Staatspräsident Viktor Orbán dies versucht, bekommt er nicht nur aus Brüssel, sondern auch aus Berlin sein Fett weg – als „Putin-Versteher“, „Autokrat“ oder „Antieuropäer“. Deutlich wird hier wieder einmal, daß es in Berlin nicht nur kein Personal für eine verantwortliche Außenpolitik gibt und man sich dort lieber hinter anderen versteckt. Unter Willy Brandt, Helmut Schmidt und Egon Bahr war dies noch anders, damals galt auch noch die Harmel-Doktrin der Nato von der Dialogbereitschaft auf der Basis gesicherter Verteidigungsfähigkeit. Und einen Begriff wie „Breschnew-Versteher“ gab es damals auch nicht. Die jüngsten Bedenken des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich bestehen hier zu Recht.
Ob in der Sicherheitspolitik oder der Europapolitik – für die deutsche Außenpolitik gilt offenbar: Sie schaut kommenden Veränderungen lieber zu, als sie rechtzeitig zu beeinflussen. Das gilt für die Umverteilungs- und Schuldenpolitik in der EU, das gilt für die Ukraine-Politik. Es gilt für den Zugang zu russischen Rohstoffen wie Erdgas, es gilt für die Finanzierung eines Ukraine-Wiederaufbaus nach einer Abkehr der USA von Europa nach Ostasien. Und das wären dann nicht nur Geldfragen.
Auch eine tragfähige Beziehung zu Rußland oder eine europäische Selbstbehauptung wären ohne eine gesunde industrielle, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Basis nur sehr viel schwerer möglich. Und darum muß es schließlich gehen, wenn man Anspruch auf eine realistische und eigenständige Außenpolitik nicht nur deklaratorisch erhebt – für Deutschland wie für Europa.
Dr. Peter Seidel, Jahrgang 1956, Politologe und Journalist, schreibt als freier Autor für diverse deutsche und Schweizer Zeitungen. Zuletzt erschienen ist von ihm das Buch „Zeitenwende – aber wohin?“ über den Kurs der deutschen Außenpolitik.