Max Scheler feiert 150. Geburtstag. Höchste Zeit also, ihn vor dem schlimmsten Los zu bewahren, das einem Denker drohen kann: zum Klassiker und folglich unschädlich gemacht zu werden.
Von allen Schriften Schelers empfiehlt sich zum Einstieg – und zu vielfachem Wiederlesen – seine rund 120 Seiten zählende Studie über „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“, deren erste Fassung unter dem Titel „Ressentiment und moralisches Werturteil“ 1912 in Leipzig erschien. Schelers Thema stammt von Nietzsche her, das Ressentiment als schöpferische Rache der Talent- und Charakterlosen, der Ungestalten und sonstwie Zukurzgekommenen an Gott und der Welt. Schöpferisch wird ihre Rache per Umwertung: sie stülpt die eigentliche Wertordnung um, so daß sie auf dem Kopf steht. Im Ergebnis gilt, wie in Deutschland leider sehr ausgeprägt, der Elegante als „flach“, der Grobschlächtige als „authentisch“, und Erfolgreiche werden als Leute verlacht, die psychische Defizite kompensieren.
Schelers Ressentiment-Schrift modifiziert Nietzsches Standpunkt – gerade dort, wo jener, wie es in „Ecce homo“ heißt, „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ antreten läßt. Das Christentum wird nun nicht mehr in Bausch und Bogen als Ausfluß des Ressentiments verurteilt. Für Scheler ist klar, „daß die Wurzel der christlichen Liebe von Ressentiment völlig frei ist – daß aber andererseits keine Idee leichter durch vorhandenes Ressentiment für dessen Tendenzen zu verwenden ist, um eine jener Idee entsprechende Emotion vorzutäuschen“. Wo wir beim Vortäuschen sind: Schelers Abhandlung besticht durch ihre Analyse der „Werttäuschungen“ als Folge von Ressentiment und Ursache beständigen Unglücks auf seiten der Verbitterten, da die Täuschungen stets unvollständig bleiben. Die eigentlichen Werte sind, so Scheler, „noch da, aber gleichsam überdeckt von den Täuschungswerten, durch die sie nur schwach hindurchscheinen“. Der Ressentimentmensch weiß, daß er in einer Scheinwelt lebt. Das mag das rasche Aufbrausen vieler unserer Gutmenschen erklären.
Mit Schelers „Rettung“ des Christentums öffnet sich eine faszinierende Rezeptionslinie. Karol Wojtyła, der spätere Johannes Paul II., verfaßt eine Habilitationsschrift über Scheler und variiert dort dessen Formel bezüglich des Christentums. Schelers Theorie sei – es folgt eine geraffte Übertragung des polnischen Originals – prinzipiell ungeeignet, um die christliche Ethik zu interpretieren, erweise sich jedoch als nützlich, wo es in der wissenschaftlichen Arbeit von Theologen darum gehe, ethische Phänomene und Erfahrungen zu analysieren. Aus Wojtyłas Habilitation allerdings sollte, den Realitäten in der Volksrepublik Polen geschuldet, nichts werden.
Minderbemittelte Charaktere verfallen rasch dem Ressentiment
Eine weitere, nicht minder faszinierende Rezeptionslinie: Scheler und der aus Lemberg stammende Ökonom Ludwig von Mises, einer der Köpfe der Österreichischen Schule in der Nationalökonomie und Lehrer des späteren Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek, kannten einander in ihren Wiener Jahren. In Mises’ prägnant geschriebener Abhandlung „Die Wurzeln des Antikapitalismus“ tauchen, wie schon bei Scheler, verschiedene „Ressentimenttypen“ auf, mithin Leute, die ihrer Stellung und Disposition nach besonders gefährdet sind, dem Ressentiment zu verfallen. Bei Scheler zählen pensionierte Beamte, Priester und Schwiegermütter dazu, bei Mises unternehmerisch mindertalentierte „Vettern“ in Entrepreneur-Dynastien und viele Intellektuelle, die sich als unterbezahlt wahrnehmen und gern mehr Einfluß hätten. Mises’ Intellektuellenkritik weist voraus auf den amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen Thomas Sowell (JF 19/24) und den Historiker, Unternehmer und Publizisten Rainer Zitelmann, der sich in jüngster Zeit mit empirischer Neid-Forschung beschäftigt und ein interessantes Buch über den wirtschaftlichen Aufstieg Polens und Vietnams verfaßt hat.
Schelers Ressentimentschrift reiht sich somit in eine dritte Rezeptionslinie ein, die sich von Nietzsche über Scheler selbst bis zu Helmut Schoecks gewaltiger Abhandlung „Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft“ aus dem Jahr 1966 (und darüber hinaus zu Zitelmann) ziehen läßt. Der Soziologe beruft sich auf Schelers „bohrende, elastische, brillant einsichtsreiche Analyse“ und korrigiert deren Ergebnisse, wie Scheler zuvor Nietzsche modifiziert hat. Schoeck berücksichtigt eine Fülle von Informationen über Mißgunst in außereuropäischen Gesellschaften, Völkern und Stämmen, die Scheler unbekannt geblieben waren; außerdem kannte Schoeck, der rund anderthalb Jahrzehnte in den USA gelehrt hatte, die angelsächsische Welt aus eigener Anschauung. Das Ergebnis: Schelers Verdammung der bürgerlichen Gesellschaft wird revidiert, seine Verteufelung der von „Berechnung“ geprägten, „wesentlich utilistischen Zivilisation“ der Angelsachsen kommt bei Schoeck nicht vor.
Einige der Lehren des Philosophen Scheler sind folglich mit Vorsicht zu genießen – wie so oft bei Vertretern seines Fachs. Dies gilt desto mehr, wo sie Charme vermissen lassen, etwa „die repräsentative Frauenschicht“ in den USA und Großbritannien in den Blick fassen und feststellen, daß sie „sich mehr und mehr, wahrscheinlich schon durch Auslese der Erbwerte, aus solchen Individuen rekrutiert, die spezifisch weiblicher Reize bar“ seien und „wenig durch Liebes- und Mutterschaftssorgen im sozialen Emporkommen“ gehindert würden. Daß Schelers These von der „wesentlich utilistischen Zivilisation“ als Unsinn gelten muß, lehrt ein flüchtiger Blick in Roger Scrutons wunderbaren Rückblick „England. An Elegy“.
Nachdem der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, schrieb Scheler einen dicken Band gegen das perfide Albion: „Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg“, ein philosophisches Buch als War Effort, ähnlich Karl R. Poppers „Offener Gesellschaft und ihre Feinde“ während des Zweiten Weltkriegs, von gegensätzlicher Ausrichtung freilich. Schelers unglückliche Bemerkungen über die Angelsachsen im Blick, mag Vernunft aufscheinen, wo ihm seine Bemerkungen über den „Humor, dies Schweben des Gemütes zwischen einem lachenden und einem feuchten Auge“, zum Kompliment für die Engländer gereichen, obwohl er sie wiederum zum Nachweis ihrer „organischen Verlogenheit“ anführt: „Gibt es überhaupt einen außerenglischen Humor, der nicht irgendwie England nachgemacht ist“, was zu bezweifeln sei, „so ist jedenfalls der englische Humor der Sterne, Dickens, Thackeray der humorvollste Humor, den es auf der Welt gibt.“
Prof. Dr. Karsten Dahlmanns lehrt am Institut für Literaturwissenschaft der Schlesischen Universität Kattowitz. Er ist Autor des Buches „Vom besonderen Unglück tüchtigerer Minderheiten“ (Leipzig 2023).
Foto: Max Scheler (1874–1928), undatiertes Foto: Der Ressentimentmensch lebt in der Scheinwelt