© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/24 / 16. August 2024

Taktische Fehler reflektiert
Marx-Engels-Werkausgabe: Die „Miniaturen“-Reihe des Dietz-Verlags zeigt, wie Tradition und Selbstkritik ineinandergreifen können
Florian Werner

Blauer Einband, goldener Schriftzug: Marx-Engels-Werke. Viel mehr braucht es nicht, um den Karl Dietz Verlag aus Berlin in Erinnerung zu rufen, der mit den „MEW“, also der Marx-Engels-Werkausgabe eine Großbaustelle der deutschen Literaturgeschichte leitet. Seit den fünfziger Jahren sind etwa 1.700 Schriften und über 4.000 Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels in dieser Studienausgabe der Superlative erschienen – längst nicht alles, wie aktuelle Veröffentlichungen des japanischen Philosophen Kohei Saito aus dem Nachlaß der beiden Revolutionäre beweisen. Die Dimensionen werden klar, wenn man die „MEW“ neben die „MEGA“, die Marx-Engels-Gesamtausgabe, hält. Während in den MEW bisher 44 Bände erschienen sind, werden für die MEGA 114 veranschlagt. Die Sichtung und Edition dieser Hinterlassenschaften hat ganze Wissenschaft-lergenerationen geprägt. 

Dieses Gerüst wackelt, wo die politische Linke in die Defensive gerät, wie derzeit in Deutschland. Nicht nur Konkret fürchtet sich wegen schrumpfender Leserzahlen und steigender Kosten vor dem Konkurs. Auch das Neue Deutschland bangt um seine Existenz. Gleichzeitig trumpft ein neuer Konservatismus auf dem Kontinent auf. Die Schließung des Georg-Lukács-Archivs durch die Akademie der Wissenschaften in Ungarn 2016 wurde in den europäischen Feuilletons einhellig als Beleg dafür gewertet, daß es der Regierung Orbán mit der Entkommunisierung des Landes Ernst ist. Selbst eine kleine Statue des Denkers mitten im Budapester Stephanspark wurde 2017 aus dem Stadtbild entfernt. In Deutschland wurde diese Politik mit Sorge registriert, auch weil sie noch als Blaupause dienen könnte.

Die Linkspartei trägt diese ideologischen Rückzugsgefechte ohne nennenswerte Fehlerkultur aus. Schlechte Umfragewerte und Wahlniederlagen werden nicht in programmatische Kurskorrekturen verwandelt. Wo dennoch eine Aufarbeitung stattfindet, nimmt diese aber unerwartet konservative Züge an. Die Abspaltung des Bündnis Sahra Wagenknecht ist ein Beispiel dafür, die generalüberholte „Miniaturen“-Reihe des Dietz Verlags ein anderes. 

Die bislang 19 Bücher sind durchschnittlich 200 Seiten lang und enthalten in den meisten Fällen einen einführenden Kommentar, mehrere Quellentexte und eine Kurzbiographie. Die einzelnen Teile der „Miniaturen“-Reihe kommen im 2018 grunderneuerten Dietz-Design daher. Die Gestaltung der Bücher wurde unter der Leitung des Grafikers Andreas Homann auf modern-konstruktivistisch umgestellt.

Die „Miniaturen“ zeigen, wie Tradition und Selbstkritik zusammengehen können. Der Leser entdeckt beim Durchblättern der Bände, daß die Säulenheiligen der Arbeiterbewegung unentwegt gegen diese aufbegehrten. Jeder von ihnen balancierte politisch am Eklat, am Parteiausschluß und an der politischen Verfolgung entlang. Das gilt für Karl Liebknechts Pazifismus im Ersten Weltkrieg genauso wie für Alexandra Kollontais Feminismus in der Sowjetunion. Dieses Umschlagen von Ikonen in Parias hält das Publikum dazu an, selbst mit linken Parteistandpunkten aufzuräumen. Die Geschichte der Linken wird dadurch zum kritischen Maßstab ihrer heutigen Beurteilung. 

An dieser Geschichte hat der Dietz Verlag einen beträchtlichen Anteil. 1881 gegründet, erwarb sich das Haus mit dem Theorieorgan Die Neue Zeit und der Schriftenreihe „Kleine Bibliothek“ innerhalb weniger Jahre europaweit Geltung. Karl Kautsky, Georgi Plechanow, Rosa Luxemburg, Eduard Bernstein und viele weitere ließen ihre Arbeiten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs regelmäßig beim Verlag J.H.W. Dietz drucken – benannt nach dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Johann Heinrich Wilhelm Dietz aus Stuttgart, der mit seinem Satireblatt Der wahre Jacob bis 1912 eine Auflage von 380.000 Exemplaren erreichte und sich dadurch eine sprudelnde Geldquelle für seine politischen Verlagsvorhaben schuf.

Auch Abweichler und Renitente der Arbeiterbewegung im Blick

Aus der Frühzeit der internationalen Arbeiterbewegung stammt auch der Großteil der Autoren, die sich heute in den „Miniaturen“ wiederfinden. Neben Heinrich von Treitschkes parlamentarischem Gegenspieler Franz Mehring und dem „Arbeiterkaiser“ August Bebel tritt auch Lenins Nemesis Julius Martow auf, der in seinem Flugblatt „Schande!“ die Ermordung der Romanows durch die Bolschewiki anklagt: „Ihr Leben hat den gleichen Preis, ihr Leben ist für jeden, der den proletarischen Sozialismus nicht gegen die Raubtiermoral eines Berufshenkers getauscht hat, ebenso unantastbar wie das Leben eines jeden Händlers oder Arbeiters.“ Der sozialistische Aufstand, mahnt der Menschewik, dürfe die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution nicht rückabwickeln, sondern müsse sie weitertragen. Auch die Sowjets hätten Gewaltenteilung und Demokratie zu achten. Es sind Interventionen wie diese, die die „Miniaturen“ interessant machen. In ihnen melden sich die Abweichler und Renitenten der Arbeiterbewegung zu Wort.

Für eine Linke, die sich in Denkverboten und Intrigen verliert, könnte dieser Blick in die eigene Vergangenheit noch zum Agens der Selbstaufklärung werden. Beispielhaft dafür ist auch die „Miniatur“ zu Eduard Bernstein. Im Jahr 1900 wurde der Marx-Schüler noch als Rechtsabweichler innerhalb der SPD gehandelt. Im historischen Rückblick jedoch verwandelt er sich in eine Stimme für mehr Demokratie – innerhalb wie außerhalb der Partei. In seinem 1901 gehaltenen Vortrag „Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?“ spricht sich Bernstein gegen blinden Dogmatismus in der Arbeiterbewegung aus: „Die Wissenschaft ist tendenzlos, als Erkenntnis des Tatsächlichen gehört sie keiner Partei oder Klasse an.“

In seinem Begleitessay hält der ehemalige Chefredakteur des Neuen Deutschland Tom Strohschneider das politische Engagement Bernsteins gegen den heutigen Zustand linker Politik. „Ein freiheitlicher Sozialismus ist ohne Überwindung sozialer und ökonomischer Abhängigkeitsverhältnisse nicht zu denken. Aber zu oft scheint es heute, daß eine linke Idee auf die liberalen Aspekte verzichten oder diese als nachrangig betrachten könne“, mahnt er. Die linke Intelligenz muß auf die taktischen und strategischen Fehler der sie tragenden Parteien und Bewegungen reflektieren. Daß sie diese Aufgabe jedoch immer weniger erfüllen kann, je mehr diese in die Defensive geraten, gehört zu den herben Eigenarten gesellschaftlicher Umwälzungen.


Miniaturen-Reihe: Die politische Linke ist in die Defensive geraten