© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/24 / 16. August 2024

Fürsorgeoase für Führungskader
Wolfgang Scherz beschreibt den Fusionsprozeß von Bundesbahn und Reichsbahn nach 1990
Paul Leonhard

Dreckige Züge, ungeheizt, langsam und speziell in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch unpünktlich – so dürfte vielen DDR-Bürgern die Deutsche Reichsbahn in Erinnerung geblieben sein. Und doch hat sie eine wichtige Rolle in den revolutionären Zeiten des Herbstes 1989 gespielt. Die Sonderzüge, die die Botschaftsflüchtlinge aus Prag über Sachsen und Thüringen in die Bundesrepublik brachten, waren insbesondere bei ihrer Durchfahrt durch Dresden ein Brandbeschleuniger für die Beseitigung der SED-Diktatur. Monate später brachten völlig überfüllte Züge neugierige Mitteldeutsche in den Westen. Wie phlegmatisch dabei Reichs- und Bundesbahn auf die neue Situation reagierten, zeigten die fahrplanmäßig langen Wartezeiten an der innerdeutschen Grenze. Auch wenn dort längst kein Grenzsoldat oder Zöllner mehr kontrollieren konnte – die festgelegte Zeitspanne wurde penibel eingehalten.

Revolutionen waren im System Bahn nicht vorgesehen, weder im Osten noch im Westen. Das bekam auch Wolfgang Scherz zu spüren, als der Oberamtsrat aus der DB-Zentrale in Frankfurt am Main nach Berlin geschickt wurde, um die Vereinigung der beiden Bahnen voranzubringen. Denn, was heute kaum noch beachtet wird, die Reichsbahn geriet nicht unter die Verwaltung der Treuhand, wurde auch nicht an die Bundesbahn verramscht, sondern es wurde eine Fusion versucht, aus der – so der Traum von Idealisten auf beiden Seiten der zusammengebrochenen Mauer – eine neue profitable Eisenbahn entstehen sollte.

Daß das letztlich nicht gelungen ist, habe nicht an den hochmotivierten Eisenbahnern gelegen, versichert Scherz, der in seinen Erinnerungen „Auf neuen Gleisen. Die Abwicklung der Deutschen Reichsbahn“ sogar die These vertritt, anders als die Bundesbahn sei die Reichsbahn der DDR mit Gewinn gefahren. Allerdings bleibt er jenseits der Tatsache, daß die SED ab 1972 im Gegensatz zu bundesdeutschen Regierungen den Schienen- stets gegenüber dem Straßenverkehr privilegierte, einen Beleg für diese angebliche Effizienz schuldig. Trotzdem sind die Schilderungen von Scherz, der von Januar 1990 bis 1994 an exponierter Stelle und als „erster von wenigen Westimporten“ in der Berliner Zentrale der Reichsbahn den Fusionsprozeß nicht nur begleitete, sondern auch mitgestaltete, lesenswert.

Die Reichsbahn war zwar für die SED systemrelevant, hatte sich aber nie vom Desaster der ersten Nachkriegsdekade erholt, als Tausenden Kilometer Gleisstrang abgebaut und als Reparation in die Sowjetunion transportiert werden mußten. Noch 1990 waren lediglich 30 Prozent des etwas mehr als 14.000 Kilometer umfassenden Streckennetzes (einschließlich Schmalspurbahnen) mehrgleisig.

Die Reichsbahn beförderte deutlich mehr Güter als die Bundesbahn

Dafür besaß nahezu jeder größere Betrieb einen direkten Bahnanschluß, schon weil gesetzlich vorgeschrieben war, daß Gütertransporte über 50 Kilometer auf der Schiene zu fahren waren. Zeitweise beförderte die Reichsbahn mehr Güter als die Bundesbahn auf ihrem mehr als doppelt so großen Netz. 1986 erreichte sie einen Beförderungsgrad von 86 Prozent für Waren.

Die DDR war ein Eisenbahnland und die etwa 224.000 Reichsbahner (1990) genossen hohes Ansehen. Auch Scherz singt in seinen Erinnerungen ein Loblied auf die Mitarbeiter, die er während seiner Zeit bei der Reichsbahn kennenlernte. Als der 1949 in Passau geborene Bauingenieur für Verkehrstechnik nach Berlin kam, war noch der im November 1989 als Generaldirektor der Reichsbahn berufene Herbert Keddi im Amt. Dieser wurde durch Hans Klemm ersetzt, der wiederum zum 31. August 1991 sein Amt verlor, weil er für die Stasi gearbeitet hatte. Es folgte Heinz Dürr (bis 31. Mai 1992), dessen persönlicher Assistent Scherz wurde.

Wie schwierig der Fusionsprozeß war, den Scherz fast nur positiv beschreibt, ahnt der Leser, wenn die Rede von Generaldirektoren, Präsidenten, Amtsvorständen, Dienststellenvorstehern ist, die die Bahn mit Hilfe von Dienstvorschriften, Weisungen, Fahrbefehlen und Anordnungen steuerten. Die Bundesbahn sei mit ihrem Behördendienstrecht ebenso wie Teile der Reichsbahn eine „Wohlfühl- und Fürsorgeoase“ gewesen – für Führungskräfte, schreibt Scherz. Während die westliche „Behördenbahn“ sich mittels der Politik gegen „sinnvolle Verschlankungen“ sperrte, hätten die Kollegen der Reichsbahn mit Reformen begonnen: Reichsbahndirektionen wurden zusammengelegt, große Werke und große Dienststellen geschlossen. „Im Wettlauf zu einem effektiven Unternehmen war die Reichsbahn viel schneller als die Bundesbahn“, schreibt Scherz und nennt auch den Grund dafür: „Wer in einem Staat gelebt hat, in dem die Strukturen zusammengebrochen waren, ist bereit, außergewöhnliche Dinge zu tun.“ Für Bahnchef Dürr hat Scherz nur Lob übrig. Jene Zeit seien für ihn mit die „lehrreichsten und spannendsten Jahre meines Berufslebens“ gewesen. Das hält ihn aber nicht davon ab, ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern. So habe sich der Vorstandschef vor Dienstbeginn stets rasieren lassen und sei mit „leichter Blauspülung im grauen Haar“ im Büro erschienen.  

Scherz beschreibt aber auch den Widerstand, den es seitens der Bundesbahn gegen den Einsatz der Doppelstockwagen gab, die in der DDR das Rückgrat des Personenverkehrs bildeten. Er erlebte letztlich nicht nur die Fusion aus „Behördenbahn“ und „Staatsbahn“ zur „Deutschen Bahn“, sondern auch die am 1. Januar 1994 in Kraft getretene Bahnreform und bescheinigt der DB-Leitung, nicht für  die Führung eines Unternehmens auf dem freien Markt gerüstet zu sein. Daß dem so war, zeigte sich mit der Liberalisierung des Schienenverkehrs, als sich das Staatsunternehmen plötzlich dem Wettbewerb mit privaten Eisenbahnunternehmen stellen mußte. Bis heute ist Scherz sicher, daß sich auch aktuell mit mehr Sachverstand und besserer Beratung bei der Bahn viel Geld einsparen oder zumindest sinnvoller investieren ließe.

Wolfgang Scherz: Auf neuen Gleisen. Die Abwicklung der Deutschen Reichsbahn. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2024, broschiert, 223 Seiten, 20 Euro