Herr Professor Brandner, explodierende Fallzahlen bei Messerangriffen und Vergewaltigungen. Islamkritiker, die sich ohne Polizeischutz nicht mehr auf die Straße trauen. Morddrohungen gegen Christen und Juden. Was ist da los?
Rudolf Brandner: Problematisch ist Immigration aus Kriegsgebieten und Ländern mit defizitären rechtsstaatlichen Strukturen, in denen die Menschen ihre Gegensätze persönlich durch Gewalt austragen. Diese kulturellen Gewohnheiten importieren sie dann in die aufnehmenden Staaten – die dem zumeist wehrlos gegenüberstehen.
Warum?
Brandner: Weil unsere Vorstellung von Einwanderung von der Annahme kultureller Homogenität geprägt ist. Wir müssen kulturelle Differenz mitbedenken und daher verschiedene Formen von Migration, etwa eine „invasive“ und eine „akkulturierende“, unterscheiden. Danach unterscheiden sich dann auch Einwanderungsländer von Zuwanderungsländern.
Worin liegt der Unterschied?
Brandner: Als Einwanderungsland bezeichnen wir die in der Neuzeit gebildeten Staaten in Amerika, Australien oder Neuseeland – und übrigens gehört auch Israel dazu –, nämlich Gebiete, die von einer Kulturgemeinschaft neu in Besitz genommen werden, wobei die Ureinwohner verdrängt oder ausgerottet wurden. Dieser „invasiven“ Einwanderung der klassischen Einwanderungsländer steht die „akkulturierende“ Einwanderung gegenüber. Und sie ist es, die wir eigentlich meinen, wenn wir in Deutschland heute von Migration sprechen, nämlich daß die Neuankömmlinge die bestehende Kultur und ihre Träger nicht beseitigen, sondern aufnehmen, also sich „akkulturieren“. Deutschland ist wie ganz Europa kein Einwanderungsland, sondern ein Zuwanderungsland, und dies schon seit langem.
Während wir mit dem irrigen Begriff „Einwanderungsland“ also eigentlich akkulturierende Zuwanderung meinen, verstehen sich viele Migranten selbst allerdings als invasive Einwanderer. Meinen Sie das?
Brandner: Ich denke, daß viele Migranten aus muslimischen Ländern sich eigentlich gar nicht klarmachen, was Einwanderung in eine ganz andere kulturelle Welt bedeutet. Mitunter sehen sie es als bloßen Arbeitsplatzwechsel an, bei dem man all seine heimatlichen Gewohnheiten beibehalten kann. Mehr noch: Diese verstärken sich in der nun fremden Umwelt und aktivieren die religiöse Identität, die im Islam jede Akkulturation als Sünde brandmarkt. Deshalb tritt die muslimische Immigration verstärkt durch ihre religiösen Wortführer überall mit einem invasiven Bekehrungsauftrag auf.
Die allermeisten Moslems in Deutschland gehen allerdings friedlich ihrer täglichen Arbeit nach und sind weder Messerstecher, noch arbeiten sie an Plänen zur Machtübernahme des Kalifats.
Brandner: Das behauptet auch keiner, aber unter welchem Einfluß viele stehen, zeigt sich zum Beispiel daran, daß fast zwei Drittel der türkischstämmigen Bevölkerung Deutschlands 2017 Erdoğans islamistischem Verfassungsreferendum zugestimmt haben. Oder daß ebenso viele Moslems in der EU die Scharia über die säkularen Gesetze des Landes stellen. Zudem darf man hier nicht nur auf die Einwanderer selbst sehen, sondern muß sich auch der mächtigen islamischen Staatenwelt im Hintergrund bewußt sein, die sich zudem durch ihre Finanzmacht längst einen festen Stand in unserer Wirtschaftswelt verschafft hat. Von etlichen dieser Staaten geht eine gezielte Religionspolitik aus: durch islamische Verbände, die Entsendung von Imamen, den Bau von Moscheen und innereuropäischen Ausbildungszentren etc. Die politische Devise dabei ist unmißverständlich: Kulturelle Assimilation, sagt etwa Erdoğan, „ist ein Verbrechen“. Auch deshalb, weil der biologische Reproduktionsreichtum als Teil eigener Machtpolitik gesehen wird, man den Nachwuchs also als loyales Werkzeug der ethnoreligiösen Gemeinschaft versteht. Und nicht etwa, wie wir, als frei geborene Individuen mit Recht auf Selbstbestimmung.
Und vor dieser Herausforderung, so die These Ihres Essaybands, vollzieht sich fatalerweise „das Versagen der politischen Vernunft Europas“. Was aber ist diese „politische Vernunft“ überhaupt?
Brandner: Sie ist nicht theoretisch erkennende, sondern praktisch handelnde Vernunft, die aus der generationsübergreifenden Erfahrungsgeschichte einer Gemeinschaft hervorgeht und ihr ethisches Selbstverständnis verkörpert, also was Recht und was Unrecht ist.
Konkret bitte.
Brandner: Nehmen Sie eine Anzahl einzelner. Wann werden diese „politisch“? Dann, wenn sie sich nicht mehr als einzelne, sondern als Gemeinschaft verstehen, die um eines gemeinsamen Ziels willen handeln, nämlich den Bestand und die Fortentwicklung ihres Daseins zu sichern. Politische Vernunft ist folglich reflexiv, also zurückbezogen auf das Wohl der Gemeinschaft, deren Politik sie ist. Dieses Wohl meint aber nicht nur materielle Lebensbedingungen, sondern die ganze Lebensart, Sitten und Gebräuche, Denk- und Empfindungsweisen, die ihr ethisches Selbstverständnis ausmachen. Ihr „In-der-Welt-sein“, könnte man mit Heidegger sagen. An dieser Lebensart hat jede Kultur ihre sich selbst bejahende Identität, die sie bewahren und weiterentwickeln will. Doch die Zuwanderung aus völlig andersartigen Kulturgemeinschaften stellt die politische Vernunft vor die Aufgabe, den Zuwandernden das eigene ethische Selbstverständnis als Bildungsaufgabe zu vermitteln.
Was, wenn das nicht gelingt?
Brandner: Dann löst die Gemeinschaft sich in Parallelgesellschaften auf und geht letztlich zugrunde.
Warum versagt nach über zweitausend Jahren Erfolgsgeschichte nun die politische Vernunft der Europäer?
Brandner: Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage, die ins Feld der Geschichtsphilosophie gehört. Es hat damit zu tun, daß das geschichtliche und ethische Selbstverständnis unserer europäischen Welt im Zerfall begriffen ist – ihr also gewissermaßen Sinn, Ziel und Zweck politischen Handelns aus dem Blick geraten sind.
In Ihrem Essayband lokalisieren Sie die Ursache dafür in der Postmoderne.
Brandner: Ausführlicher habe ich das im vorausgegangenen Band „Die Ideologie der Menschenrechte und das Ethos des Menschseins“ behandelt. Entscheidend ist die technologische Revolution der menschlichen Lebensbedingungen, die in der globalen Vereinheitlichung der Welt zum Zuge kommt. An die Stelle der kulturgeschichtlich gebildeten Realsubjekte, etwa Völker oder Nationalstaaten, tritt dann das leere Allgemeinsubjekt der „Menschheit“ – in deren Namen politisch supranationale Institutionen meinen handeln zu können (oder zu müssen). Diese aber sind wiederum in den Händen von Partikularinteressen – vulgo Lobbys – und also nicht von gemeinschaftsbildender politischer Vernunft. Die Folge ist, daß die konkrete, geschichtlich gewachsene Realität menschlicher Gemeinschaften marginalisiert, entmündigt und zum Spielball partikulärer Machtinteressen wird. Der Menschenrechtsdiskurs ist in diesem Fall also ein Betrugsunternehmen von katastrophaler Wirkung, das habe ich im schon erwähnten Buch ausführlich dargelegt.
Wie spiegelt sich das nun konkret in unserem Problem mit dem Islam wider?
Brandner: Zum Problem wird der Islam erst durch die Immigration, da nun kulturell entgegengesetzt empfindende Menschen eine gemeinsame Lebenswelt teilen sollen. Man stelle sich vor, ein Veganer und ein Liebhaber von Schlachtplatten oder ein Raucher und ein Nichtraucher sollten eine Wohngemeinschaft bilden – jeder weiß, das geht schief. Sind die unmittelbaren Lebenswelten der beiden dagegen voneinander getrennt, können sie vielleicht gut miteinander auskommen, möglicherweise sogar befreundet sein. Die Einwanderung jedoch hat unser Verhältnis zum Islam von der Ebene geographisch getrennter Staaten auf eine binnenstaatliche gebracht. Und mit wachsender Rat- und Hilflosigkeit stehen wir nun den Symptomen dieser Entwicklung gegenüber, zu denen unter anderem die von Ihnen eingangs genannten sowie weitere Formen der Gewalt gehören, die seit Jahren zunehmen. Vor allem aber erleben wir, wie vor dieser Herausforderung unsere politische Vernunft versagt, etwa in Form der Unfähigkeit des Staates, seinen Schutzpflichten noch nachzukommen. Das Vertrauen der Bürger in die innere Sicherheit schwindet dramatisch, denn noch vor zehn Jahren war für die meisten Deutschen diesbezüglich die Welt einigermaßen in Ordnung.
Die Zeichen stehen also überdeutlich an der Wand. Wieso werden sie dennoch von so vielen übersehen?
Brandner: Weil man das, was als störend und negativ erfahren wird, durch Realitätsverleugnung verdrängt. Man fühlt sich zu schwach, sich damit auseinanderzusetzen und damit umzugehen. Ein kindlicher Harmoniedrang, sich alles zurechtzulügen, übernimmt dann – wie schon im Menschenrechtsdiskurs – die Führung. Es sind doch alles „Menschen überhaupt“ und als bloße Biomasse sind sie alle gleich „würdig“. Die ethisch-geistige Selbstbildung des Menschen, die verschiedenen geschichtlichen Kulturen zugrunde liegt, wird übersprungen. Aber allein sie begründet Würde und Unwürde des Menschen, die zum ethischen Fundament der politischen Vernunft gehört. Das zu praktizieren ist anstrengend und verlangt Charakter. Bequemer ist da der Appell an „Menschen überhaupt“.
Aber hat dann nicht jeder Kulturkreis eine andere politische Vernunft?
Brandner: Ja, genau, und zwar aufgrund seiner geschichtlichen Bildung. Was, denken Sie, würden muslimische Staaten machen, wenn zahllose westliche Zuwanderer mit woker, genderideologischer und LGTBQ-Mentalität in ihre Länder strömten? Sie würden sie im Namen ihrer politischen Vernunft entweder heimschicken oder zur Akkulturation zwingen. Die politische Vernunft Europas aber erklärt sich dazu unfähig – das ist ihr Substanzverlust! Statt dessen verurteilt man alle, die vor der alltäglichen Gewalt erschrecken oder sich durch Zwangsheirat, Jungfrauenwahn, Ehrenmord, verschleierte Scharia-Frauen und Homosexuellenfeindlichkeit in ihrem ethischen Selbstverständnis angegriffen fühlen, als ausländerfeindliche „Rassisten“ oder „Nazis“.
Da fragt sich doch, welche massenpsychologische Stimmung dahinterstehen. Sie verweisen dazu im Buch auf einen Nazi-Komplex und den modernen Moralismus.
Brandner: Ja, das gehört zusammen: das Phantasma des absolut Bösen und der panische Versuch, sich vor ihm zu retten. Es sind verdrängte irrationale Ängste der modernen Seele, die nach immer hysterischeren Entladungsmöglichkeiten suchen. Tatsächlich verlangt der allgemeine Gefühls- und Befindlichkeitskult unserer Tage, alles, jeden Gegensatz und Unterschied, in universeller Liebe aufzulösen. Die Flutung des öffentlichen Raums mit weichen Gefühlen verbietet starke, kathartische Reinigungsaffekte wie Wut, Zorn, Haß oder Verachtung, die zur Selbstachtung des Menschen gehören, wo er in seinen Grundlagen verletzt wird. Aber diese sind im Zeichen eines schwelenden Nazi-Komplexes angstbesetzt: Sie könnten böse – antisemitisch, rassistisch, imperialistisch, sexistisch etc. – sein. Die Entlastung von alldem ist nur noch durch einen einzigen gesellschaftlich gebilligten Kanal möglich: den Moralismus, der überall „Nazis“ wittert und bekämpft. Moralismus ist in der Moderne die legitimierte Form von Haß.
Sehen Sie folglich Europa zum Untergang verdammt oder gibt es aus dieser Spirale ein Entkommen?
Brandner: Entscheidend ist, zu erkennen, daß nicht der Islam die größte Gefahr für Europa ist, sondern der Verlust des eigenen kulturellen und geschichtlichen Selbstbewußtseins. Eine Akkulturation der Einwanderer kann nur gelingen, wenn es gelingt, die Gemeinschaftsbildung der aufnehmenden (europäischen) Kulturen zu erneuern. Dies aber kann unter den Bedingungen der Religion – sei es die christliche, jüdische oder islamische – nicht mehr geleistet werden. Allein die Erkenntniskultur der Philosophie, die von allen drei Religionen intensiv rezipiert wurde, kann den Weg ebnen zu einer Überwindung der Gegensätze.
Und wie bitte soll das gelingen?
Brandner: Dem widme ich das letzte Kapitel meines Buchs, das eine Reihe von Maßnahmen nennt. Im Zentrum steht intensive Bildungsarbeit, um bei den muslimischen Zuwanderern ein Bewußtsein dafür zu erzeugen, daß Migration kein bloßer Ortswechsel ist, sondern existentielle Konsequenzen für das eigene Selbstverständnis impliziert. Bis ins 13. Jahrhundert hatte der Islam große philosophische Persönlichkeiten, von denen unsere mittelalterlichen Philosophen viel lernten. Dies ließe sich in unseren Bildungsinstitutionen aktivieren, um gerade der jüngeren Generation der Muslime Wege aufzuzeigen, die Exklusivität religiöser Identität und ihrer Gegensätze durch Erkenntnisliebe – was „philo-sophia“ ja bedeutet – zu überwinden.
Prof. Dr. Rudolf Brandner lehrte Philosophie an der Universität Freiburg und hatte Gastprofessuren in Leipzig, Parma, Turin, Paris und Indien inne. Er veröffentlichte in verschiedenen philosophischen Zeitschriften und schrieb etliche Bücher, darunter das zweibändige Werk „Grundlegung und Ausbildung menschlichen Weltverhältnisses“ und zuletzt die beiden in der „Werkreihe Tumult“ erschienenen Essaybände „Die Ideologie der Menschenrechte und das Ethos des Menschseins“ (2022) und „Muslimische Immigration und das Versagen der politischen Vernunft Europas“ (2024). Aufgewachsen ist Brandner, Jahrgang 1955, in Bad Rippoldsau im Schwarzwald. www.rudolf-brandner.de