© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/24 / 23. August 2024

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Anzeichen eines Abnabelns
Christian Vollradt

Wenn sich langjährige enge Mitarbeiter nach einem neuen Job umschauen, hat das in der Regel zwei Gründe: Entweder lockt ein deutlich besseres Angebot oder das Vertrauensverhältnis mit dem alten Chef ist plötzlich zerrüttet. Der wiederum sollte sich besondere Sorgen machen, wenn weder der eine noch der andere Umstand vorliegt. Denn das könnte bedeuten: Der Mitarbeiter geht davon aus, daß der Chef selbst seinen Posten bald verlieren wird – und will sich für diesen Fall in Sicherheit bringen. 

Genau so dürfte die Sache bei Wolfgang Schmidt liegen. Nicht jedem außerhalb der Berliner Blase ist der 53jährige bekannt, auch wenn es sich um ein Mitglied der Bundesregierung handelt – konkret um den „Bundesminister für besondere Aufgaben“. Hinter der etwas seltsamen Bezeichnung folgt die geläufigere: Chef des Bundeskanzleramts, kurz ChefBK. Damit ist Schmidt Leiter einer Behörde mit rund 900 Mitarbeitern und einem Etat von knapp vier Milliarden Euro. Außerdem obliegt ihm die Koordination der Nachrichtendienste des Bundes. 

In erster Linie wird der Jurist als engster Mitarbeiter von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wahrgenommen. Journalisten verpassen ihm in dieser Rolle Beinamen wie „Scholz-Flüsterer“, „menschliche Schnittstelle“ oder – angesichts der vielen Brandherde innerhalb der Krisen-Koalition – „Feuerwehrmann im Dauereinsatz“. Tatsächlich ist Schmidts Karriereweg seit 2002 eng verwoben mit dem seines zwölf Jahre älteren Chefs, der wie er aus Hamburg stammt. Als Scholz SPD-Generalsekretär wurde, war Schmidt zunächst als Referent, später als Büroleiter an seiner Seite. Den gleichen Posten bekleidete der FC-St.-Pauli-Fan auch, als Scholz Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion wurde. Danach wurde Scholz Bundesarbeitsminister, Schmidt Unterabteilungsleiter in dessen Ressort. Dem Ersten Hamburger Bürgermeister Scholz diente Schmidt als Bevollmächtigter beim Bund, um – wieder zurück in Berlin – Staatssekretär im Bundesfinanzministerium unter Minister und Vizekanzler Scholz zu werden. Und dann Kanzleramtsminister. 

Was kann da noch kommen? Jetzt strebt der 1,95-Meter-Mann erstmals ein eigenes Mandat an. Die Mitglieder des SPD-Bezirks Hamburg-Eimsbüttel kürten ihn einstimmig zum Direktkandidaten für den Bundestag, nachdem ihr bisheriger Abgeordneter Niels Annen seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hatte. 

Theoretisch könnte Schmidt in der kommenden Legislaturperiode durchaus beides sein, Kanzleramtschef und Bundestagsabgeordneter. So wie sein Vorgänger Helge Braun oder dessen Vorgänger Peter Altmaier und Ronald Pofalla (alle CDU). Die derzeitigen Zustimmungswerte deuten allerdings darauf hin, daß ein Kabinett Scholz II eher unwahrscheinlich ist. Der Wahlkreis Hamburg-Eimsbüttel war lange in SPD-Hand. Bei der Bundestagswahl 2021 eroberte ihn jedoch mit Till Steffen ein Grüner; die Partei hatte ja seinerzeit einen gewissen Höhenflug. Immerhin davor muß sich Kandidat Schmidt wohl nicht fürchten.