Wohl jeder hat sich schon einmal über unverständliche Formulare und überzogene Auskunftspflichten gegenüber den Behörden aufgeregt. Was Bürokratie aber wirklich bedeutet, haben rund 35 Millionen Grundeigentümer bei der 2022 von ihnen verlangten Erstellung der „Erklärung zur Feststellung des Grundsteuerwertes“ erfahren. Schon das dafür zwangsweise zu benutzende „Elster“-Portal der Finanzämter erwies sich für viele als regelrechter Zeit- und Nervendieb. Und wer die Registrierung schließlich mit „Aktivierungs-ID“, „Abruf-Code“ und vielen weiteren Hürden geschafft hatte, verzweifelte anschließend oft an den für Laien kaum beantwortbaren Fragen. Nicht wenige gaben den ganzen Kram schließlich nach stundenlanger Arbeit doch an die Steuerberater und zahlten lieber deren teils saftige Honorare.
Zehn Stunden gehen pro Woche an Berichtspflichten verloren
Was für die meisten Betroffenen ein einmaliges Ärgernis blieb, ist für Unternehmer und Selbständige in Deutschland nerviger Alltag. Eigentlich sollten sie sich vorwiegend um ihre Produkte, Mitarbeiter und Kunden kümmern. Statt dessen müssen sie unzähligen Berichts- und Nachweispflichten nachkommen, oft ohne jeden Sinn und Verstand. Rund zehn Stunden pro Woche wendet ein durchschnittlicher Mittelständler allein dafür auf, haben die Handelskammern ermittelt. Steuerformulare, Arbeits- und Datenschutzrichtlinien, Umwelt- und Nachhaltigkeitsberichte, Herkunftsnachweise für Vorprodukte, CO2-Bilanzen für importierte Güter etc. etc – es nimmt kein Ende. So sind gerade erst die EU-Vorschriften für die sogenannte CSR-Berichterstattung verschärft worden. Dabei geht es um umfangreiche Sorgfalts- und Berichtspflichten der Unternehmen nicht nur zum Umwelt- und Arbeitsschutz, sondern zum Beispiel auch für mehr „Diversität“ bei der Besetzung von Vorständen und Kontrollgremien. Ursprünglich waren nur rund 500 Großunternehmen davon betroffen, inzwischen trifft die Regelungswut der Brüsseler Bürokraten aber auch zahlreiche Mittelständler. Nach einer Schätzung der Handelskammern müssen in Deutschland mittlerweile rund 15.000 Unternehmen den Vorschriften Folge leisten. „Es beginnt damit, daß wir jährlich sämtliche elektronischen Geräte kostspielig von einem Elektriker überprüfen lassen müssen“, berichtet der Leiter eines Farben- und Lackherstellers aus Norddeutschland, der anonym bleiben möchte, der JF. „Eine Privatperson kann ihren dreißig Jahre alten Fön jahrelang bei sich aufbewahren. Aber wenn er in unserem Betrieb zum Einsatz kommt, wird er nach offizieller Sicht gefährlich.“ Diese Form von besonderer Regelung betrifft jedoch nicht bloß Elektrogeräte. „Wenn wir bei unserer Arbeit ganz normalen Speiseessig einsetzen würden, den es in jedem Supermarkt zu kaufen gibt, müßten wir ihn speziell lagern und unseren Mitarbeitern den Umgang damit beibringen“, berichtet der Unternehmer.
Für den Geschäftsführer der Sicherheitsfirma Solutions 4 Security, Tobias Laue, ist vor allem die fehlende Kommunikation unter deutschen Behörden ein Problem. „Vor kurzem ist etwa ein Mitarbeiter aus meiner Firma ausgeschieden – daraufhin wollten drei Behörden gleichzeitig die Höhe seines Gehalts wissen: die Krankenkasse, die Unterhaltsvorschußkasse und die Arbeitsagentur“, erzählt Laue der JF. „Es müßte doch möglich sein, daß die Behörden diese Informationen untereinander austauschen.“ Dazu komme die fehlende Digitalisierung – sämtliche Dokumente müßten nach wie vor auf Papier und per Post eingereicht werden. „Das alles zu organisieren ist eine Mehrfachbelastung, die kaum ein Unternehmen stemmen kann.“ Hilfreich seien die Behörden dagegen selten. „Wenn ich mir dort Informationen holen will, wissen die Mitarbeiter oft selbst nicht, was für Regeln und Gesetze nun eigentlich gelten.“
Und das ist bei weitem nicht alles. Schon während der Merkel-Regierung wurde das berüchtigte „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ beschlossen, das schließlich Anfang 2023 in Kraft getreten ist. Es verpflichtet größere Unternehmen dazu, bei jedem importierten Vorprodukt oder Rohstoff sicherzustellen, daß bei dessen Herstellung nicht etwa Kinderarbeit eingesetzt oder gegen andere Arbeits- oder Umweltschutzstandards verstoßen wurde. Und das nicht etwa nur bei dem unmittelbaren Lieferanten, sondern auch bei dessen Vorlieferanten, entlang der ganzen Lieferkette eben. Jedem Laien mit etwas gesundem Menschenverstand dürfte sofort einleuchten, daß dies in der Praxis unmöglich ist. Trotzdem wurde der Unfug von der Politik gegen alle anfänglichen Widerstände durchgezogen. Waren im ersten Jahr noch Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitern betroffen, sank diese Schwelle ab 2024 bereits auf 1.000 Angestellte. In Wahrheit liegt sie sogar noch niedriger und betrifft in der Praxis auch viele kleine Lieferanten größerer Unternehmen. Denn auch bei ihnen muß nachgeforscht werden, ob sie nicht etwa ihrerseits ethisch fragwürdige Importe getätigt haben. So reicht etwa schon der Bezug von 150 Schrauben aus dem Ausland aus, um eine entsprechende CO2-Bilanz ihrer Herstellung vorlegen zu müssen.
Der Cottbusser Autohändler Thomas Knott berichtet der JUNGEN FREIHEIT: „Aufgrund des Lieferkettengesetzes muß jedes kleinere oder mittelständische Unternehmen eine eigene Verwaltung dafür aufbauen.“ Um alle Importgüter zu kontrollieren, brauche es eine eigene Person oder Abteilung mit eigenem Arbeitsplatz und Computer. „Das macht man nicht eben so nebenher.“ Wenn ein Unternehmen Dienstleistungen für größere Betriebe bereitstelle – sein Autohaus stellt der Deutschen Bahn und der Deutschen Post etwa Reparaturleistungen an Fahrzeugen zur Verfügung –, dann habe der größere Betrieb die Verpflichtung, sein Autohaus nach dem Lieferkettengesetz zu kontrollieren, berichtet Knott. Sein Betrieb habe sich entschlossen, sich dagegen zu sperren. „Die Manpower, um das zu stemmen, haben wir nicht. Wir wollen sie auch nicht haben.“ Während sich viele Unternehmer von derartigen Regeln gegängelt fühlen, ist beinahe jede neue Regierung in den vergangenen Jahren mit dem Versprechen angetreten, Bürokratie abzubauen. Bislang ohne Erfolg. Sogar Ursula von der Leyen, die Mutter des Verbrennerverbots und zahlloser anderer Brüsseler Schildbürgereien, hat dies für ihre neue Amtsperiode wieder versprochen. Doch die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt eine andere Tendenz: Nach einer Studie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ist der finanzielle Aufwand, den deutsche Unternehmen für die Erfüllung ihrer bürokratischen Pflichten erbringen müssen, seit 2017 von insgesamt 1,7 Milliarden auf 14,4 Milliarden Euro gestiegen.
Trotz mancher Erleichterung im Detail wuchert die Bürokratie beinahe krebsartig immer weiter. Sie gleicht einer Hydra, der stets zwei Köpfe nachwachsen, wenn man einen abgeschlagen hat. Das ist kein Zufall, sondern es hat Methode: Je mehr Parlamentarier und Staatsbedienstete es gibt, desto mehr Bürokratie werden sie erschaffen. Denn jeder von ihnen will und muß sich profilieren, um im politischen Geschäft zu überleben, was am besten mit neuen Gesetzesinitiativen gelingt. So hat allein das EU-Parlament 705 Abgeordnete mit über 8.000 Mitarbeitern (in der ganzen EU sind es 60.000). Im Deutschen Bundestag sitzen sogar noch mehr, nämlich 733 Parlamentarier, für die das Gleiche gilt. Dazu kommen noch die sechzehn Länderparlamente mit insgesamt knapp 1.900 Abgeordneten sowie zahllose Bundes- und Landesbehörden, welche nochmals eigene Verwaltungsvorschriften erlassen. Nach einer Studie der INSM stieg die Zahl der Planstellen in der Bundesregierung von 2017 bis 2023 von etwa 152.000 auf mehr als 194.000 Personen. Das ist ein Anstieg um mehr als 27 Prozent.
Bürokratie ist das größte Ärgernis der Unternehmen
Einige der Behörden wie etwa das Umweltbundesamt verstehen sich zudem selbst als politische Instanzen. Getrieben von Ehrgeiz oder Ideologie, aber bar jeder Verantwortung für die Kosten, setzen sie die Politik unter Druck, immer weiter gehende Gesetze, Normen und Vorschriften zu erlassen. Dabei leiden gerade Fachleute oft an „professioneller Deformation“: Wer sich den ganzen Tag mit Unfällen beschäftigt, verliert eben den Blick dafür, daß dies in Wahrheit eher seltene Ereignisse im Leben eines Menschen sind. Was dabei herauskommt, kann man auch im Wohnungssektor beobachten. Gab es in den neunziger Jahren in Deutschland noch etwa 5.000 Bauvorschriften, so sind es mittlerweile um die 20.000. Und während früher wenigstens für Bestandsbauten noch Vertrauensschutz galt, werden inzwischen auch deren Eigentümer zu teilweise ruinösen Zwangsinvestitionen verdonnert. Insgesamt könnte allein Habecks Heizungsgesetz bis 2030 für deutsche Privathaushalte geschätzte Kosten von 56 Milliarden Euro verursachen. Dabei sind Sanierungskosten, Dämmung etc. noch nicht eingerechnet. Ob der Aufwand sich im Einzelfall überhaupt rechnet, wird gar nicht erst geprüft. Statt dessen gibt es als Trostpflaster Subventionen und ein paar Härtefallregeln, was mit noch mehr Bürokratie verbunden ist.
Welche enorme Brisanz das Thema Bürokratie für die schwächelnde deutsche Wirtschaft hat, machte der Vorstandschef der Landesbank Baden-Württemberg, Rainer Neske, vergangene Woche in einem Interview mit der FAZ deutlich: „Vor allem der Mittelstand geht still und leise, indem die Unternehmen die Zukunftsinvestitionen im Ausland tätigen.“ Häufig werde ihm von Unternehmern berichtet, daß man aufgrund der deutschen Politik schlicht aufgebe. „Was mich aber schockiert“, betonte Neske, „ist, daß das Steuerthema bei den Unternehmen gar nicht an erster Stelle der größten Ärgernisse kommt, denn das ist die Bürokratie. Aus Sicht des Staates würden hohe Steuern wenigstens Einnahmen bringen, die man für Investitionen nutzen könnte. Aber was haben wir von einer überbordenden Bürokratie? Da gibt es gar keinen Gewinner.“