Es war ein weiterer Paukenschlag in einem ohnehin schon ereignisreichen Jahr. Unter dem Titel „Ein Saufabend, eine gemietete Jacht – Die wahre Geschichte hinter der Sprengung von Nord Stream 2“ veröffentlichte die amerikanische Zeitung Wall Street Journal (WSJ) in der vergangenen Woche eine Reportage, die die politische Landschaft Europas erbeben ließ und gleich für mehrere europäische Regierungen mindestens unangenehme Folgen nach sich zog.
In Wahrheit, so das WSJ, sei die Entscheidung, die Pipelines in die Luft zu sprengen, bei einem Zechgelage ukrainischer Militärs entstanden. Man habe dort den Entschluß gefaßt, das deutsch-russische Infrastrukturprojekt in die Luft zu jagen. Daraufhin habe man den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj informiert, der – so die ungenannt bleibende Quelle des WSJ – grünes Licht dazu gegeben habe.
Federführend bei der Umsetzung des Plans gewesen sei Roman Tscherwinskyj, ein dekorierter Oberst mit Verbindungen in den ukrainischen Militärgeheimdienst. Armeegeneral Walerij Saluschnyj selbst habe die politische Verantwortung übernommen. Er war bis Februar dieses Jahres militärischer Befehlshaber aller ukrainischen Streitkräfte. Angeblich habe Selenskyj später versucht, seine Einwilligung zurückzuziehen, doch der Militär Saluschnyj lehnte einen Abbruch der Operation ab: Das sei „wie ein Torpedo, den man losgeschickt hat“.
Die polnische Staatsanwaltschaft zuckt nur mit den Schultern
Für den ukrainischen Staatschef kommt die Enthüllung zur Unzeit, seit längerem steht er innen- wie außenpolitisch unter Druck, der Präsident kämpft im Ausland um Finanzhilfe und Waffenlieferungen und muß sich im Inland der politischen Ambitionen populärer Militärs erwehren.
Doch nicht nur Selenskyj dürfte über den Report des WSJ einige Minuten Schlaf verloren haben, auch im Nachbarland Polen entwickelten die Enthüllungen der Amerikaner ein Eigenleben. Kurz nach der Veröffentlichung des WSJ meldete sich in Berlin der ehemalige BND-Chef August Hanning zu Wort und beschuldigte gegenüber der Presse die polnische Seite schwer, er glaube daß es „Verabredungen“ zwischen Kiew und Warschau gegeben habe, die Pipeline zu sprengen. Anschuldigungen, die das politische Polen scharf zurückwies. Statt mit dem Finger auf andere zu zeigen, sollten die Verantwortlichen für den Bau von Nord Stream 2 „die Klappe halten“, schrieb der polnische Präsident Donald Tusk auf dem Kurznachrichtendienst X – eine im zwischenstaatlichen Umgang außergewöhnlich deutliche Sprache.
Ebenfalls außergewöhnlich ist der Umgang der polnischen Staatsanwaltschaft mit einem internationalen Haftbefehl, den die deutschen Kollegen für einen in der Republik Polen ansässigen Ukrainer ausstellten. Den in der Nord-Stream-2 Sache beschuldigten Wolodymyr Z. hätten die Polen eigentlich binnen 60 Stunden festnehmen sollen, doch in Warschau blieb man untätig. Der Mann reiste höchstwahrscheinlich unbehelligt in die Ukraine aus, die polnische Staatsanwaltschaft zuckt dazu lediglich mit den Achseln und verweist auf angebliche Verfahrensfehler.
Der Skandal zieht Kreise bis in die Niederlande
Aus Sicht der Deutschen eine kaum verhohlene Schutzbehauptung. Doch auch in Berlin dürfte der Artikel aus New York Unruhe ausgelöst haben. Denn bereits seit Juni wird davon ausgegangen, daß auch die niederländische Regierung Kenntnis von einer ukrainischen Operation gegen Nord Stream 2 hatte – und dazu nicht nur die amerikanischen Kollegen der CIA, sondern wahrscheinlich auch die deutschen Kollegen gewarnt oder zumindest informiert hatte.
Doch für Ministerpräsident Dick Schoof bleibt die niederländische Unterstützung für die Ukraine „unvermindert“, berichtete die NL-Times. Schoof wolle erst die Ergebnisse der deutschen Untersuchung abwarten, bevor er die Möglichkeit diskutiere, daß die Ukraine hinter dem Angriff auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee und der angeblichen Beteiligung von Präsident Wolodymyr Selenskij stecke. „Es ist wichtig, den Angriff Rußlands auf die Ukraine im Interesse Europas und der Niederlande zu stoppen“, erklärte Schoof. „Das bedeutet, daß die Unterstützung der Ukraine in diesem Zusammenhang steht.“
Auch Verteidigungsminister Ruben Brekelmans habe sich nicht zu den Vorwürfen äußern wollen, die Ukraine stecke hinter dem Plan, die Nord-Stream-Pipelines zu sprengen, so das Blatt. „Ich glaube, wir sollten uns für die Unterstützung der Ukraine einsetzen“, sagte Brekelmans auf Nachfrage der NL-Times. Der Koalitionspartner, die von Geert Wilders geführte PVV, erhöht den Druck auf die Expertenregierung. In einer parlamentarischen Anfrage wollte die Partei vom Kabinett wissen, ob es ebenfalls der Meinung sei, daß es „nicht ohne Konsequenzen bleiben kann, wenn es um die Beziehungen zwischen den Niederlanden und der Ukraine geht“, falls sich herausstellen sollte, daß die Ukraine hinter dem Anschlag auf die Nord- Stream-Pipeline stecke.
Damit dürfte das Chaos komplett sein, in Kiew, Warschau, Den Haag und Berlin deutliche Unruhe herrschen. Die anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland dürften durch die jüngsten Entwicklungen nun auch außerhalb der deutschen Grenzen mit Spannung und einiger Sorge verfolgt werden, stehen doch mit BSW und AfD gleich zwei Parteien zur Wahl, die auch europaweit als Kritiker der Eskalation in der Ukraine gelten.
Ebenfalls erheblich gespannt sein dürfte man in den anderen europäischen Hauptstädten auf die Reaktion der bundesdeutschen Regierung, denn schließlich wurde das politische Berlin im Ausland gleich dreifach brüskiert: erst durch die Sprengung, dann durch die Untätigkeit der polnischen Behörden und schließlich durch die eher als schnoddrig einzustufende Antwort des polnischen Staatspräsidenten.
Was bei aller Empörung allerdings auf der Strecke bleibt, ist die Frage nach der Seriosität der WSJ- Journalisten. Diese legen nämlich keine handfesten Beweise vor, sondern berufen sich auf den Quellenschutz. Deutlich aufschlußreicher dürfte hier die sofortige Reaktion der ukrainischen Regierung sein. Armeegeneral Saluschnyj wurde, mittlerweile als Botschafter der Ukraine im Vereinigten Königreich, wenige Stunden nach der Veröffentlichung des Artikels zu „Besprechungen“ in den Präsidentenpalast beordert.