© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/24 / 23. August 2024

Viele können kein Deutsch
Notstand in Schulen: Kein Platz, kein Geld, entnervte Lehrer – aber eine wachsende Zahl Flüchtlingskinder
Daniel Holfelder

An der Grundschule Gräfenau in Ludwigshafen sind im vergangenen Jahr 37 Erstkläßler sitzengeblieben – ungefähr jeder vierte. Warum? 98 Prozent der Kinder an der Gräfenauschule haben einen Migrationshintergrund, viele können kein Deutsch.

Der Fall ging groß durch die Medien. Er ist zwar ein Extrembeispiel, aber in der Tendenz paßt er zu dem, wovor Fachleute schon lange warnen: einer Überlastung des Bildungssystems durch zu viele zugewanderte Schüler. „Durch die Zuwanderung 2015, den Ukraine-Krieg und sonstige Zuwanderung kommen immer neue Menschen ins System hinein, aber das System kommt nur schleppend hinterher, weil es zu schnell geht“, schlug im Juni der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Stefan Düll, Alarm. Heinz-Peter Meidinger, der Ehrenpräsident des Lehrerverbandes, hatte die Entwicklung ein Jahr zuvor ähnlich kritisch beschrieben. „Seit 2015 haben unsere Schulen etwa eine dreiviertel Million Flüchtlingskinder zusätzlich aufgenommen – ohne daß dafür die nötigen zusätzlichen Lehrkräfte zur Verfügung stehen“, monierte er in der Bild.

Die Warnungen decken sich mit dem, was mehrere Lehrer im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT berichten. Vor allem seit 2015 sind die Schulen mit immer mehr Kindern konfrontiert, die kaum oder gar kein Deutsch sprechen. Normalerweise müßten diese Schüler in eigenen, möglichst kleinen Förderklassen unterrichtet werden. Doch dafür fehlt es häufig an Platz und an Personal. Die Kultusministerkonferenz beispielsweise geht davon aus, daß bis 2025 rund 25.000 Lehrer fehlen werden. 

Die Lehrer stehen damit vor der oftmals unlösbaren Aufgabe, Kinder mit enormen Sprachdefiziten in überfüllte Regelklassen zu integrieren, gleichzeitig aber den regulären Unterrichtsstoff zu vermitteln. Sie finden sich unversehens in der Rolle als Sozialarbeiter und Psychologe wieder, für die sie nicht ausgebildet sind. 

Bayern und Sachsen heben sich von den Bundesländern ab

Aber nicht nur die fehlenden Deutschkenntnisse der Kinder sind eine Herausforderung, auch die Sprachbarriere zu vielen Eltern bereitet große Schwierigkeiten. Schon die Kommunikation über einfache organisatorische Dinge, etwa was Schulmaterial, Ausflüge oder dergleichen angeht, ist mit großem Aufwand verbunden, ganz zu schweigen von Erklärungen zu den Feinheiten des deutschen Schulsystems. 

„Ich muß mich um viel zu viele Dinge kümmern, die mit dem Unterricht nichts zu tun haben“, faßt eine Lehrerin, die nicht namentlich genannt werden will, ihre persönliche Arbeitssituation zusammen. Andere Lehrer, die ebenfalls anonym bleiben wollen, bestätigen die hohe Belastung durch viele zugewanderte Schüler. „Heute würde ich den Beruf nicht noch einmal wählen“, betont einer. Er habe Lehrer sein wollen und kein Sozialarbeiter.

Genauso prekär ist die Situation für die Kinder, die sich ohne ausreichende Deutschkenntnisse in einem überforderten System zurechtfinden müssen. Viele von ihnen stammen aus armen Familien mit niedrigem Bildungsstand – zwei entscheidende Hindernisse für den Bildungserfolg. Die sprachlichen Defizite kommen noch hinzu. Daß diese Kinder die Lernziele häufig verfehlen und signifikante Nachteile gegenüber ihren Altersgenossen haben, liegt auf der Hand. 

So erreichten laut einer 2021 durchgeführten Untersuchung des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) knapp 20 Prozent der Viertkläßler im Testbereich Lesen nicht den Mindeststandard. Besonders viele hatten davon  einen Migrationshintergrund. Das gleiche galt für Orthographie und Mathematik, wo etwa ein Drittel beziehungsweise ein Fünftel hinter den Mindestanforderungen zurückblieb. Bei der Untersuchung, bekannt als IQB-Bildungstrend, handelt es sich um die aktuellste Messung der Leistungen im Grundschulbereich.

Sie bestätigte ferner die Leistungsunterschiede, die in den verschiedenen Bundesländern herrschen. Bayern und Sachsen standen wie in vielen anderen Erhebungen der vergangenen Jahre an der Spitze, Bremen und Berlin hielten die rote Laterne. Wenig überraschend fielen in den leistungsstarken Ländern auch die Ergebnisse der Viertkläßler mit Migrationshintergrund besser aus als in den schwachen Ländern.

Außerdem verglich das IQB die Ergebnisse mit seiner Analyse zehn Jahre zuvor. Damals hatte der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in der vierten Klasse bei knapp 25 Prozent gelegen. 2021 waren es knapp 40 Prozent. Der Anteil der Einwandererkinder in erster Generation (im Ausland geboren) stieg von etwa zwei auf mehr als zehn Prozent. 

„Viele verhalten sich 

vollkommen anständig“

Parallel dazu nahmen die Leistungsunterschiede zwischen Viertkläßlern mit und ohne Migrationshintergrund deutlich zu. Schon 2011 hatten die Schüler mit Migrationshintergrund durchschnittlich schlechter abgeschnitten. 2021 wurde ihr Rückstand noch größer.

Allerdings leiden auch die anderen Kinder darunter, wenn viele ihrer Mitschüler schlecht Deutsch sprechen. Das legt nicht nur der IQB-Befund zum Gesamtniveau in der vierten Klasse nahe, das im Vergleich zu den vorangegangenen Untersuchungen merklich gesunken ist. Ein erstaunlich ehrlicher Erfahrungsbericht zu diesem Thema stammt von dem Autor Philipp Möller, der selbst zwei Jahre lang als Vertretungslehrer gearbeitet und über seine Erfahrungen das Buch „Isch geh Schulhof“ (2012) veröffentlicht hat. 

Möller schilderte vor drei Jahren gegenüber der Deutschen Presse-Agentur den Schulbeginn seiner Tochter. „Wir haben genau gesehen, wie Klara, die anfangs mit einer Riesenfreude in die Schule ging, jeden Tag ein bißchen frustrierter zurückkam“, erinnerte er sich und machte aus dem Grund für die Enttäuschung seiner Tochter keinen Hehl: „Das Sprach- und dadurch das Lernniveau waren so brachial gering, daß die Lehrerin es schwer hatte, da überhaupt Unterricht zu machen. Es gab nur vier oder fünf andere Kinder ohne Migrationshintergrund in der Klasse.“ 

Damit die Tochter auf eine andere Schule gehen konnte, entschied sich die Familie nach kurzer Zeit für einen Umzug, wie Möller offen zugab. Andere gutsituierte Eltern vermeiden das Problem, indem sie von vornherein an Orten mit einem niedrigen Migrantenanteil wohnen. Zudem wuchs der Anteil von Schülern an Privatschulen von 2000 bis 2020 um mehr als 40 Prozent, meldet das Statistische Bundesamt. 

Wovon die Lehrer ebenfalls immer wieder erzählen, sind Probleme insbesondere mit muslimischen Schülern. Die JF griff das Thema schon vor wenigen Monaten in einer Reportage mit dem Titel „Islamismus im Klassenzimmer“ auf (JF 17/24). Eine Schülerin aus dem Ruhrgebiet berichtete von muslimischen Klassenkameraden, die andere Mitschüler gewaltsam zwingen, sich an islamische Verhaltensregeln zu halten.

Er habe den Bericht seinerzeit gelesen, erzählt ein Lehrer der JF vor wenigen Tagen. An seiner Schule belaufe sich der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund auf über 50 Prozent. So dramatisch wie in der JF-Reportage sei die Lage nicht, „aber es ist für jeden klar erkennbar, daß viele muslimische Schüler Probleme verursachen“. Sie würden sich häufig in Gruppen zusammentun und fielen durch ihr aggressives Verhalten auf, im Unterricht wie im Pausenhof. „Besonders respektlos sind sie bei Kolleginnen“, macht der betreffende Lehrer deutlich. Gleichzeitig betont er mehrfach, daß er auf keinen Fall alle muslimischen Schüler meine. „Viele verhalten sich vollkommen anständig, anständiger als die deutschen Schüler.“

Daß Muslime und muslimische Schüler nicht in Sippenhaft zu nehmen sind, verdeutlicht auch der Erfahrungsbericht eines Lehrers, der jahrelang an einer christlichen Privatschule tätig war. Die Schule hätten nicht nur christliche, sondern auch muslimische Schüler besucht, schildert er der JF. „Wenn ich mit den muslimischen Eltern ins Gespräch kam und sie fragte, warum sie ihre Kinder auf eine christliche Schule schickten, kam fast immer heraus: Sie wollten unbedingt vermeiden, daß ihre Kinder in islamistische Cliquen geraten.“

Derweil will die Bundesregierung die Mißstände in den Schulen mit dem kürzlich beschlossenen „Startchancen-Programm“ bekämpfen, dem größten und langfristigsten Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik. In den kommenden zehn Jahren sollen rund 20 Milliarden Euro in mehrere tausend Schulen in Deutschland investiert werden, um benachteiligte Schüler zu unterstützen, viele davon mit Migrationshintergrund. Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger bezeichnet das Projekt als „Einstieg in die bildungspolitische Trendwende“. Sie hofft, die Zahl der Schüler, die die Mindeststandards in Lesen, Rechnen und Schreiben verfehlen, halbieren zu können.

Die Reaktionen auf das Programm fallen indes zwiespältig aus. Lehrer-Präsident Düll sprach einerseits von einem „Meilenstein“, andererseits bemängelte er, daß es noch deutlich mehr Investitionen bräuchte. Ähnlich äußerten sich mehrere Politiker, etwa die CSU-Bundestagsabgeordnete Daniela Ludwig. „Nur jeder elfte Schüler wird von dem Startchancen-Programm überhaupt profitieren. Das ist zuwenig“, kritisierte sie. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken stellte fest: „Es wäre notwendig, das Programm auf zumindest die Hälfte der Schulen auszuweiten.“

Auch die Erstkläßler aus Ludwigshafen sollen von dem Programm profitieren. Ihre Gräfenau-Grundschule zählt zu den insgesamt 2.125 Schulen, die ab dem kommenden Schuljahr unterstützt werden.

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