© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/24 / 23. August 2024

Netzwerkerin im Biedermeier
Im Schatten der Mutter und des Bruders: Adele Schopenhauer war eine talentierte Künstlerin
Kerstin Rech

Ihr Geburtsjahr sei 1797 gewesen, den Monat wisse er jedoch nicht mehr. Juni oder Juli. So schreibt Arthur Schopenhauer nach dem Tod seiner Schwester an deren Lebensgefährtin Sibylle Mertens-Schaaffhausen. Was ihm von diesem Tag in Erinnerung geblieben ist, ist die Tüte Marzipan, die dem neunjährigen Knaben anläßlich der Geburt des Nachzüglers geschenkt wurde.

Es ist der 12. Juni, als Luise Adelaide Lavina, genannt Adele, Tochter des Kaufmanns Heinrich Floris Schopenhauer und seiner Frau Johanna geborene Trosiener, in Hamburg das Licht der Welt erblickt. Ihr junges Leben nimmt eine schicksalhafte Wendung, als Heinrich Floris im April 1805 stirbt. Seine Leiche wird in einem Fleet hinter seinem Haus treibend gefunden. Wahrscheinlich setzte der zur Schwermut neigende Mann seinem Leben selbst ein Ende. Einen Hinweis darauf gibt Johanna Schopenhauer in einem Brief an ihren Sohn, in dem sie schreibt, sein Vater mache sich gern Sorgen, wenn er keine habe. 

Johanna, nun eine wohlhabende Witwe, löst das Handelshaus ihres Mannes in Hamburg auf und zieht im Oktober 1806 mit der mittlerweile neunjährigen Adele und einer Bedienten nach Weimar. Ihren Sohn Arthur läßt sie in Hamburg zurück, wo er eine Kaufmannslehre absolvieren muß. Die Autorin Angela Steidele bringt den ureigenen Beweggrund Johannas für die gewünschte räumliche Trennung in ihrem 2010 erschienenen  Buch „Geschichte einer Liebe. Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens“ auf den Punkt: „Der Mutter erging es wie fast allen Menschen, denen Arthur Schopenhauer begegnen sollte. Sie konnte ihn nicht leiden.“

Goethe unterstützte ihre Ausbildung

Die Zeit ihres Umzugs ist keine friedliche Zeit. Durch die Schlacht bei Jena und Auerstedt, in der die preußische Armee von Napoleons Truppen vernichtend geschlagen wird, wird auch Weimar zum Kriegsschauplatz. Brandschatzend und plündernd toben die Franzosen in der kleinen Residenzstadt. Johanna hilft den Opfern und nimmt selbst obdachlos gewordene Weimarer bei sich auf. Dank ihrer Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft wird sie rasch eine anerkannte Mitbürgerin und für die gebildeten Schichten zur gern besuchten Gastgeberin.

Ihr Salon ist schon bald Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in Weimar – nicht zuletzt da Johann Wolfgang von Goethe regelmäßig bei ihr zu Gast ist. Daß Goethe dem Salon der Johanna Schopenhauer vor anderen Orten des intellektuellen Austauschs den Vorzug gibt, kommt nicht von ungefähr. Sie ist die erste, die die frisch vermählte, langjährige Geliebte des Meisters Christiane, vormals Vulpius, zu sich einlädt. Herrlich lakonisch schreibt sie dazu: „Wenn Göthe ihr seinen Namen giebt, können wir ihr wohl eine Tasse Thee geben.“ 

In dieser liberal denkenden Umgebung wächst Adele auf. Wie selbstverständlich nimmt sie auch an dem literarisch, künstlerisch und intellektuell erbaulichen Austausch im Salon ihrer Mutter teil. Wer Weimar besucht – um in aller Regel Goethe seine Aufwartung zu machen –, ist auch bei Schopenhauers zu Gast.  

Johanna Schopenhauer sorgt von Anfang an für eine umfassende Bildung ihrer Tochter. Der Bibliothekar der Herzogin Anna Amalia, Carl Ludwig Fernow, unterrichtet sie in der italienischen Sprache. Der aus der Schweiz stammende Maler Johann Heinrich Meyer bringt ihr das Zeichnen bei. Johanna, die selbst malt und sich ab 1810 als Schriftstellerin einen Namen macht, unternimmt mit ihrer Tochter Reisen zu den berühmtesten Gemäldegalerien der damaligen Zeit.

Adele Schopenhauer entwickelt eine große Fähigkeit in der Malerei und vor allem im Anfertigen von Scherenschnitten, die so gelungen sind, daß Goethe einige davon in seinen Besitz bringt. Goethe, den Adele „Vater“ nennt, unterstützt ihre Ausbildung und fördert ihr literarisches Talent, indem er sie zum Schreiben animiert. Nicht minder begabt ist sie in der Schauspielkunst, so daß sie bei der bekannten Schauspielerin Amalie Wolff Unterricht nimmt. Schon bald engagiert Goethe sie für einige seiner Theaterprojekte. Zum Beispiel für die Aufführung eines seiner frühen Festspiele, „Paläophron und Neoterpe“, welches er anläßlich des Geburtstages der Prinzessin Marie am 3. Februar 1819 auf die Bühne bringt.  

Adele Schopenhauer ist eng mit Ottilie von Pogwisch befreundet. Die beiden verbindet unter anderem die Liebe zum Theater und die Abneigung gegen Napoleon. Im Mai 1813 gründen sie den „Deutschen Schwesternbund“. Mit dem Verkauf von Bastelarbeiten sammeln sie Geld, um die Opfer der Befreiungskriege, die der Herrschaft Napoleons über Europa ein Ende setzen werden, zu unterstützen. Aus dem „Deutschen Schwesternbund“ entwickelt sich 1816 der „Musenverein“ – junge Frauen, die unter der Führung der rührigen Adele bei Kaffee und Kuchen zusammenkommen und der Literatur frönen. Sie lesen Werke von E.T.A. Hoffmann, Lord Byron, Shakespeare sowie ihre eigenen. 

Im Jahr 1817 heiratet Ottilie zum Entsetzen Adeles August von Goethe. Ihre Versuche, die Freundin von dieser Heirat abzubringen, hat Thomas Mann in seinem Roman „Lotte in Weimar“ literarisch verarbeitet. Das Gespräch zwischen Adele Schopenhauer und Charlotte Kestner entspringt zwar der Phantasie Manns, kann jedoch durchaus als Quintessenz von Adeles damaliger Gemütsverfassung gesehen werden. So läßt Thomas Mann Adele auf Charlotte Kestners Frage, auf wen sich ihre Sorge bezieht, sagen: „Auf eine teure Menschenseele, Frau Hofrätin, eine geliebte Freundin, meine einzige, mein Herzblatt, das holdeste, edelste, des Glückes würdigste Geschöpf, dessen Verstrickung in ein falsches, ein ganz und gar unnotwendiges und dennoch scheinbar unabwendbares Schicksal mich noch zur Verzweiflung bringen wird.“ 

Es ist das Jahr 1819, als sich dunkle Wolken der pekuniären Art über Johanna und Adele Schopenhauer zusammenziehen. Das Danziger Bankhaus Muhl, bei dem das Vermögen der Familie angelegt ist, ist zahlungsunfähig. Da Arthur Schopenhauer einen Vergleich mit dem Bankhaus ablehnt, wird die finanzielle Lage der beiden Frauen prekär. Es kommt zum Zerwürfnis mit dem Bruder. Ihren großzügigen Lebensstil können Mutter und Tochter noch eine Weile weiterführen. Die Honorare, die Johanna als mittlerweile erfolgreiche Schriftstellerin bezieht, helfen zwar, können jedoch keineswegs dazu beitragen, das bisherige Niveau umfänglich zu halten. Adele wird diesen Umstand später einmal „Scheinwohlhabenheit“ nennen.

Zu Weihnachten 1822 erleidet Johanna Schopenhauer im Alter von 56 Jahren einen Schlaganfall. Davon wird sie sich nie mehr ganz erholen. Adele, die sich nun auch im besten Heiratsalter befindet, hofft auf eine Ehe. Nicht zuletzt um dem Regiment ihrer immer herrschsüchtigeren Mutter zu entkommen. Doch dieses Unterfangen erweist sich als nicht so einfach. Adele verspürt keine romantischen Neigungen und entfacht diese auch nicht beim anderen Geschlecht.  

Anfang 1828 begegnet sie in Bonn zum ersten Mal Sibylle Mertens-Schaaffhausen, genannt Rheingräfin. Die unglücklich verheiratete Mutter von sechs Kindern ist eine allseits geschätzte Archäologin, Altertumsforscherin und hochbegabte Musikerin. Vor allem als Numismatikerin hat sie sich einen Namen gemacht; sie besitzt eine der bedeutendsten Münzsammlungen Deutschlands. Darüber hinaus ist sie Mittelpunkt des rheinischen Salonlebens, Gründungsmitglied des Kölner Dombau-Vereins und von Adele Schopenhauer hingerissen. Sie nennt sie ein Wesen eigener Art. In diesem Jahr lernt Adele Schopenhauer durch Sibylle auch Annette von Droste-Hülshoff kennen.

Ihre Lebensgefährtin pflegtesie bis zum Schluß

Es dauert zwei weitere Jahre, bis Adele und ihre Mutter ihr Zuhause in Weimar aufgeben und an den Rhein ziehen. In Unkel, in der Nähe von Bonn, finden sie dank der finanziellen Unterstützung Sibylles eine neue Bleibe. Allerdings nur während der Sommermonate. Für die Dauer der kalten Jahreszeit mietet Sibylle für die Schopenhauer-Frauen eine Sechs-Zimmer-Wohnung in Bonn, wo Johanna wieder einen Salon führt, der jedoch mit Weimar nicht zu vergleichen ist, wohin es noch einen ausgiebigen Briefverkehr – insbesondere in das Haus Goethes – gibt.

Die Beziehung zwischen Adele und Sibylle ist immer wieder durch Trennungen unterbrochen. So ziehen Adele und ihre Mutter zwischenzeitlich nach Jena, da der Großherzog in Weimar Johanna eine Pension verspricht und den Umzug zur Bedingung macht. Der dortige Aufenthalt währt nur ein Jahr, denn Johanna stirbt im September 1838.

 Adele, die in den vergangenen Jahren schon unter Pseudonym veröffentlicht hat, bringt zu Ostern 1844 unter ihrem eigenen Namen ihre „Haus-, Wald- und Feenmärchen“ heraus. Im Jahr darauf folgt der Roman „Anna“. Und einen Traum erfüllt sie sich und reist nach Rom, wo sie von Sibylle, die mittlerweile verwitwet ist, erwartet wird. Zwei Jahre leben sie in der Stadt am Tiber, wo sie unter anderem Freundschaft mit der Schriftstellerin Fanny Lewald schließen.

Schon 1840 wird bei Adele Schopenhauer eine „Drüsenkrankheit“ diagnostiziert, die sie mit Kuraufenthalten in Karlsbad kurieren will. Die angebliche Drüsenkrankheit entpuppt sich letztendlich als Krebs, dem Adele am 25. August 1849 in Bonn erliegt. Bis zum Schluß wird sie von ihrer Lebensgefährtin Sibylle in deren Haus in Bonn gepflegt. Der Versuch Sibylles, den literarischen Nachlaß der Verstorbenen herauszugeben, scheitert im Jahr darauf. Heute ist Adele Schopenhauer in erster Linie als Meisterin des Scherenschnitts bekannt, einer Kunstform, die so typisch ist für die Epoche, in der sie gelebt hat.


Bild: Adele Schopenhauer in einem Porträt von Alexander von Sternberg, 1841