Unter „Staat“ verstehe ich die Summe all jener Institutionen, die Regeln setzen, die für das Verhalten der Menschen verbindlich sind, und grundsätzlich damit betraut sind, diese durchzusetzen. Ferner verstehe ich darunter die Summe aller Institutionen, die Leistungen zuteilen, die aus öffentlichen Abgaben finanziert werden. Der Staat setzt durch seine Regeln die Grenzen, innerhalb derer sich Individuen, Unternehmen und wie immer organisierte Gruppen bewegen müssen, wenn sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen wollen. Die Spannweite ist extrem groß: Dazu gehört im Iran die Kopftuchpflicht für Frauen im öffentlichen Raum genauso wie in Deutschland die Gurtpflicht für Pkw-Insassen im öffentlichen Straßenverkehr. In vielen Bundesstaaten der USA dürfen Bürger offen sichtbar Schußwaffen mit sich führen, in Deutschland ist der private Besitz von Schußwaffen grundsätzlich verboten.
Die unterschiedlichen Regeln des Zusammenlebens prägen die Kultur einer Gesellschaft. Aber sie sind auch Ausdruck dieser Kultur. In traditionellen Gesellschaften müssen viele Normen und Sitten gar nicht in den Kodex staatlicher Regulierungen aufgenommen werden. Sie prägen sowieso die Verhaltensweisen in der Gesellschaft ganz ohne oder auch gegen staatliche Normen. Das gilt vor allem für die Gebote religiöser Gemeinschaften: So bestimmt im hinduistisch geprägten Indien, trotz eines in britischer Tradition liberal geprägten Gesetzesrahmens, die jeweilige mit der Geburt erworbene Kastenzugehörigkeit stark über das Heiratsverhalten, die Berufswahl und die lebenslange soziale Stellung der Menschen.
Zur Tradition der europäischen Aufklärung gehört es, die Autonomie und die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums unter den Schutz der staatlichen Gesetze zu stellen. Das umschließt den Schutz des Privateigentums und die Möglichkeit zu freier wirtschaftlicher Betätigung im Rahmen der geltenden Gesetze. Dieses Ordnungsmodell war eine Grundlage für den beispiellosen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Erfolg der westlichen Industriestaaten. Ihre dadurch bewirkte Dominanz bildet sich erst seit wenigen Jahrzehnten zurück.
Dagegen war die Phase autoritärer Staatswirtschaften, die mit der Gründung der Sowjetunion 1918 begann und mit ihrer Auflösung am 21. Dezember 1991 weitgehend endete, ein beispielloser Mißerfolg, nicht nur für die Freiheit und Sicherheit, sondern auch für das Wohlergehen der Bürger sozialistischer Staaten. Soweit heute noch autoritäre Regierungsformen, wie gegenwärtig in China, Vietnam und der Russischen Föderation, erfolgreich sind, gründen sie auf einer Kombination von autoritärer staatlicher Herrschaft mit freier wirtschaftlicher Betätigung im Rahmen einer Marktwirtschaft.
Ausmaß und Qualität von staatlicher Regulierung sind in demokratisch geprägten Regierungssystemen nicht automatisch besser oder schlechter als in autoritären Systemen oder in Diktaturen. Es kommt vielmehr auf die Qualität der Regulierung und ihrer Umsetzung an: Wo es qualifizierte Verwaltungen und eine funktionierende Elitenauswahl gibt, sind die Regulierungsqualität wie auch das Umsetzungstempo und die Konsistenz von Entscheidungen generell besser. Das gilt unabhängig vom politischen System.
So profitiert auf europäischer Ebene die Qualität von EU-Verordnungen durchaus davon, daß das Auswahlverfahren für Beamte der EU-Kommission traditionell recht strikt und deren Bezahlung für qualifizierte Bewerber attraktiv ist. Das ist auch deshalb wichtig, weil ein immer größerer Teil des Wirtschafts- und Ordnungsrechts nicht mehr auf nationaler Ebene entsteht, sondern in Brüssel geschaffen wird. Das gilt für Marktordnung und Wettbewerb, für das Umweltrecht einschließlich des Klimaschutzes, für den Datenschutz, für das Medienrecht, die Bankenaufsicht und Kapitalmarktregulierung und so weiter. Die ungeheuren Schwierigkeiten im praktischen Vollzug des Brexits haben der europäischen Öffentlichkeit gezeigt, daß es fast unmöglich geworden ist, die Europäische Union ohne beträchtliche Schäden für die eigene Volkswirtschaft zu verlassen. Der immer größere europäische Einfluß wirft aber auch immer schärfer die Legitimations- und Akzeptanzfrage auf der nationalstaatlichen Ebene auf. Das allgemein in Europa zu beobachtende Erstarken der Parteien am linken und rechten Rand hat auch hier seinen Ursprung.
Der Vorteil von Demokratien besteht vor allem darin, daß unblutige Machtwechsel leichter möglich sind und daß fehlende oder geringere Zensur den gesellschaftlichen Diskurs erleichtert. Die Ziele des Staates und der Gesellschaft können in Demokratien leichter miteinander abgeglichen und entsprechend ausgerichtet beziehungsweise revidiert werden. Es gibt jedoch kein zuverlässiges und im Sinne einer Gebrauchsanweisung hinreichend eindeutiges Konzept, mit dem man eine genügend breite Legitimationsbasis eines politischen Systems oder einer bestimmten Staats- und Regierungsform quasi technokratisch „sicherstellen“ kann. Die damit verbundenen Fragen gehen über den Fokus dieses Buches weit hinaus. So ist gegenwärtig (Frühjahr 2024) erkennbar, daß die Stabilität des politischen Systems in Deutschland durch die Entstehung neuer Parteien links und rechts von der Mitte getestet wird. Ob sich daraus gefährliche Entwicklungen ergeben können, ist noch nicht absehbar. Das hängt auch davon ab, wie seriös, intelligent, selbstlos und objektiv sich politische Parteien und politische Entscheidungsträger den Problemen stellen und sie tatsächlich zu lösen versuchen.
Was das Römische Reich zu seinen besten Zeiten stark machte und auch das gegenwärtige China nach meinem Eindruck stark macht, ist die Fähigkeit des Systems, ausreichend intelligente und tüchtige Kader an die Spitze zu bringen und sie dort mit jenen Machtmitteln zu versehen, die sie tatsächlich brauchen, um etwas zu bewirken. Das ist eine etwas skizzenhafte Bemerkung. Sie hat aber sehr viel zu tun mit intellektueller Qualifikation und geistiger Kompetenz sowohl bei den Führern als auch bei den Geführten. Sehr viel ist eine Frage des Zufalls, der in Kapitel 1 besprochenen historischen Kontingenz. Sehr viel hat aber auch zu tun mit der kognitiven Kompetenz der politischen Führer sowie jener Personalkörper, die über deren Auswahl bestimmen, sei es das Kollektiv der Wähler, seien es Parteitage oder Parlamente.
Reizvoll wäre in mancherlei Hinsicht ein System, in dem die geistige Mindestausstattung eines individuellen Kopfes, verbunden mit einer Mindestbildung, über das Wahlrecht und die Mitwirkungsmöglichkeiten in der politischen Willensbildung entscheiden würde. Allerdings sind hier auch die Manipulationsmöglichkeiten erheblich, so daß ich diese Frage offenlasse. Aber natürlich fallen Wahlentscheidungen um so besser aus, je informierter und intelligenter sowohl die Wähler als auch die Kandidaten und die schlußendlich Gewählten sind. Auch das macht die Frage des Bildungsniveaus beziehungsweise der kognitiven Kompetenz einer Bevölkerung so relevant.
Vor diesem Hintergrund ist es aufschlußreich, daß nur 47 Prozent der Bevölkerung wissen, daß wir in Deutschland in einer repräsentativen Demokratie leben. Und nur 42 Prozent wissen, daß die Zweitstimme für die Mandatsverteilung maßgebend ist. Vor diesem Hintergrund konstatiert der Meinungsforscher Thomas Petersen vom Allensbach-Institut: „Es werden über die Medien Diskussionen geführt, die an der Mehrheit der Bevölkerung vorbeilaufen. Es werden Konzepte entwickelt in der Annahme, daß sie auf Zustimmung stoßen, die aber von den meisten gar nicht erst verstanden werden und dort, wo sie verständlich sind, mit großer Mehrheit abgelehnt werden.“ Deshalb „darf man sich nicht wundern, wenn sich ein Gefühl der Wehrlosigkeit breitmacht und einige sich mangels Alternativen der AfD zuwenden“.
Mehr als alles andere entscheidet die Frage, wer die politische Macht hat und wie er sie ausübt, langfristig über Wohl und Wehe eines Staatswesens und seiner Bürger. Starke Institutionen und gute Gesetze, die der Initiative der Bürger ausreichend Freiraum gewähren, sie aber auch vor Unfug und Willkür schützen, sind das gewonnene historische Ergebnis vergangener guter Politik. So wird auch die Gesellschaft geprägt. Dieser Prozeß kann aber grundsätzlich stets auch in die gegenteilige Richtung laufen. Nichts ist gesichert, es muß immer wieder neu erworben werden. Das ist das größte Risiko, das über jeder Gesellschaft und dem von ihr geschaffenen Staatswesen hängt.
Wenn sich die Zusammensetzung einer Bevölkerung durch Sterbefälle, Geburten und Einwanderung ändert und damit bestimmte kulturelle Einstellungen untergehen oder neue Einstellungen entstehen, können eine Gesellschaft und der Staat, den sie trägt, in der Substanz von innen bedroht werden. Die griechisch-römische Antike war der kulturelle Stützpfeiler des Römischen Reichs. Sie ging mit dem Übergang zum Christentum als Staatsreligion in wenigen Jahrzehnten unter. Die germanische Völkerwanderung fügte dann der inneren Zerstörung des Reichs die äußere hinzu.
Etwas wohlfeil und häufig nicht sehr tiefgehend ist eine generelle Bürokratiekritik, die aus vielen politischen Ecken immer wieder angestimmt wird, wenngleich sie grundsätzlich zumeist berechtigt ist:
l Wir brauchen eine intelligente, sparsame, flexible und prinzipienstarke Regulierung über die verschiedensten Politikfelder und Lebensbereiche, immer am Puls der Zeit, der aktuellen gesellschaftlichen Bedürfnisse und auf der Höhe der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung.
l Wir brauchen dazu eine intelligente Gesetzgebung und Regulierung im weitesten Sinne. Dies erfordert eine qualifizierte, sachorientierte und unbestechliche Beamtenschaft sowie gewählte Volksvertreter in den gesetzgebenden Körperschaften mit der richtigen Mischung von Gestaltungswillen, Sachorientierung und Bescheidenheit.
l Wo diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, kommt es zu schlechten Gesetzen, die zudem schlecht durchgesetzt werden. Das führt dann entweder zu Korruption, zu bürokratischem Wildwuchs oder zu einer Mischung von beidem.
l Gute, richtig verstandene und eingesetzte Bürokratie ist sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei der Durchführung nicht das Problem, sondern die Lösung.
l Allerdings läßt sich die Qualität einer Regulierung weder an der Zahl der Gesetze noch an dem Umfang der Handbücher ablesen. Entscheidend sind vielmehr: Transparenz, Anreize für private Initiative und strikte Erfolgskontrolle.
Über die allgemeinen Prinzipien hinaus gilt aber die Logik des jeweiligen Sachbereichs. Dabei muß man – etwa beim Baurecht, beim Umweltrecht oder beim Medizinrecht – tief in die Details einsteigen und dennoch transparent und prinzipientreu bleiben. Deshalb ist es grundsätzlich nicht sehr zielführend, über Bürokratie oder Bürokratieabbau „an und für sich“ zu reden. Alle Felder von staatlichen Regulierungen jedweder Art müssen fortlaufend auf regulatorischen Wildwuchs beziehungsweise Fehlentwicklungen überprüft werden. Das gilt sowohl für die Regulierung selber als auch für ihre Umsetzung. Grundsätzlich gilt dabei: Die richtigen Prinzipien zugrunde legen, intelligent regulieren, weniger ist mehr.
Dr. Thilo Sarrazin, Jahrgang 1945, Volkswirt und Bestsellerautor („Deutschland schafft sich ab“), war von 2002 bis 2009 Berlins Finanzsenator, danach bis September 2010 Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank. Von 1973 bis 2020 gehörte er der SPD an.
Thilo Sarrazin: Deutschland auf der schiefen Bahn. Langen Müller Verlag, München 2024, gebunden, 328 Seiten, 26 Euro Der Vordruck hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.