Das Kriegstagebuch der Heeresgruppe Südukraine vermerkte am 19. August 1944: „Das Feindverhalten der letzten Tage und die Angriffe am heutigen Nachmittag lassen es als sicher erscheinen, daß der Feind am morgigen Tag westl. des Pruth zu dem erwarteten Großangriff antritt. Fesselungsangriffe an anderen Frontabschnitten sind nicht ausgeschlossen.“ Die Heeresgruppe Südukraine war für die Verteidigung von den Ostkarpaten bis zur Mündung des Dnjestr in das Schwarze Meer und damit des verbündeten Rumäniens sowie die Verhinderung eines sowjetischen Ausgreifens auf den gesamten Balkan zuständig. Der aus deutschen und rumänischen Divisionen bestehende Großverband war im Winter 1943/44 von der Roten Armee aus der Ukraine herausgedrängt worden, hatte sich aber bis zum Juni wieder erholen können. Katastrophen wie die der Heeresgruppe Mitte und schwere Rückschläge wie zuvor bei der Heeresgruppe Nordukraine (JF 26/24) waren ihr erspart geblieben.
Doch führte seit dem Juni die Verlegung der besten deutschen Divisionen zum stark bedrängten Mittelabschnitt der Ostfront zu einer erheblichen Schwächung. Zwischen Ende Juni und Mitte August wurden sechs Panzer-, eine Panzergrenadier- und vier Infanteriedivisionen abgezogen. Der Heeresgruppe verblieben Mitte August nur noch zwei deutsche Panzer- und eine Panzergrenadierdivision sowie eine schwache rumänische Panzerdivision. Eine starke bewegliche Eingreifreserve war nicht mehr vorhanden. Insgesamt verfügte die Heeresgruppe, deren Kern die nach Stalingrad wieder aufgestellte deutsche 6. Armee bildete, am 15. August 1944 aber noch über 21 deutsche und 23 rumänische Divisionen. Ihr Oberbefehlshaber, Generaloberst Johannes Frießner, der das Kommando am 25. Juli übernommen hatte, glaubte die erwartete sowjetische Großoffensive mit seinen kampfkräftigen deutschen Infanteriedivisionen in ausgebauten rückwärtige Stellungen auffangen zu können, traf aber kaum Vorbereitungen für ein weiträumigeres Absetzen in die Donau-Karpaten-Linie. Als die als Jassy-Kischinew-Operation bezeichnete Offensive der Roten Armee am 20. August begann, konzentrierte er sich z0udem auf die Kämpfe am Nordflügel in der Moldau und unterschätzte den von ihm als Ablenkungsangriff gewerteten Vorstoß der Roten Armee im Osten aus dem Brückenkopf Tiraspol am Dnjestr.
Am 23. August wechselte der deutsche Verbündete die Seiten
Dieser Zangenangriff gefährdete insbesondere die 6. Armee, die von schlecht ausgerüsteten, demoralisierten und kriegsmüden rumänischen Einheiten flankiert wurde. Die Rote Armee suchte als Durchbruchsstellen denn auch bewußt die von den Rumänen verteidigten Frontabschnitte aus und erzielte dort auch rasch tiefe Einbrüche, die Frießner indes zunächst noch meinte abriegeln zu können.
Doch große Teile der politischen und militärischen Elite Rumäniens suchten schon seit längerem nach Wegen, ihr Land einigermaßen ungeschoren aus dem Krieg herauszuführen. Dazu gehörte auch der Regierungschef Marschall Ion Antonescu. Er ordnete bereits am 22. August einen weiträumigen Rückzug der die linke Flanke der deutschen 6. Armee deckenden rumänischen 4. Armee an, ohne den Verbündeten darüber zu informieren. Zu einem sofortigen Seitenwechsel konnte sich der Marschall allerdings nicht entschließen. Andere politische und militärische Kreise in Bukarest hingegen hielten es für dringend geboten, die von den Sowjets angebotenen, relativ günstigen Konditionen rasch zu akzeptieren. Am 23. August ließ der rumänische König Michael in einem „königlichen Staatsstreich“ Antonescu verhaften und verkündete im Rundfunk den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit dem Reich und die Einstellung aller Kampfhandlungen gegen die Rote Armee und die anderen Alliierten.
Den Deutschen bot die neue rumänische Regierung einen ungehinderten Abzug an. Ob diese Zusage tatsächlich eingehalten worden wäre, ist fraglich, da die Waffenstillstandsbedingungen Rumänien zum Kriegseintritt auf alliierter Seite verpflichteten. Allerdings machte es Hitler den Rumänen leicht, diese Verpflichtung zu erfüllen. Frießner empfahl einen raschen Rückzug aller deutschen Truppen hinter die Karpaten, in das damals aufgrund des deutsch-italienischen Wiener Schiedsspruchs seit 1940 ungarische Nordsiebenbürgen. Doch Hitler befahl in dem illusionären Glauben, daß es sich um einen Staatsstreich einer begrenzten Gruppe handelte, gegen die „Putschisten“ vorzugehen. In diesem Glauben wurde er vom deutschen Luftwaffenbefehlshaber in Rumänien, General Alfred Gerstenberg, bestärkt, der mit im Umfeld der rumänischen Hauptstadt sowie im Erdölgebiet von Ploești stationierten rückwärtigen Einheiten den „Putsch“ niederzuschlagen und gegen Bukarest vorzurücken versuchte. Dies nutzte die rumänische Regierung am 25. August zur Kriegserklärung an das Deutsche Reich und zur Eröffnung der Feindseligkeiten gegen die Deutschen im Lande.
Die schwachen und meist wenig kamperfahrenen Verbände Gerstenbergs hatten keine Chance und wurden rasch vernichtet. Für die erfahrenen und noch intakten deutschen Kampfverbände an der Front bedeutete der rumänische Seitenwechsel eine Katastrophe, weil er der Roten Armee die Gelegenheiten gab, sehr schnell tief vorzustoßen. Der größte Teil der 6. Armee, zwölf Divisionen, wurde bereits am 24./25. August weitgehend eingeschlossen, weitere deutsche Verbände erlitten in den nächsten Tagen dasselbe Schicksal. Der Oberbefehlshaber der Armee, General Maximilian Fretter-Pico, versagte dabei, den Widerstand oder gar einen entschlossenen Ausbruchversuch seiner Armee zu organisieren, die bis Ende des Monats weitgehend vernichtet wurde. Nur kleinen Resten, rund 10.000 Mann, gelang es, sich zur neuen deutschen Front an den Karpaten durchzuschlagen.
Die zweite Vernichtung der 6. Armee führte zum Verlust von über 150.000 Soldaten, insgesamt gingen in Rumänien rund 290.000 Mann verloren. Die Zahl der Toten ist bis heute nicht genau bekannt, da sehr viele Soldaten unregistriert in provisorischen Gefangenenlagern und während des Transports in die Sowjetunion starben. 16 Divisionen wurden vollständig vernichtet und aufgelöst, ein weiteres halbes Dutzend bis auf Reste zerschlagen. Damit hatte die Heeresgruppe Südukraine im August eine ähnlich katastrophale Niederlage erlitten wie die Heeresgruppe Mitte im Juni/Juli.
Die strategischen Auswirkungen waren noch weitergehend. Den Resten der Heeresgruppe gelang es zwar, zusammen mit der nun notgedrungen stärker in die Kämpfe eingreifenden ungarischen Armee eine neue Frontlinie an der ungarischen Grenze aufzubauen. Doch mußte als Folge der Niederlage der gesamte Balkanraum aufgegeben werden. Das bis dato mit Deutschland verbündete, sich allerdings nicht im Kriegszustand mit Moskau befindliche Bulgarien wurde Anfang September zum Seitenwechsel und zur Auslieferung aller deutschen Soldaten gezwungen, von denen es jedoch vielen rechtzeitig gelang, das Land zu verlassen. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe E in Griechenland, Generaloberst Alexander Löhr, hatte klugerweise bereits Ende August Vorbereitungen für den Rückzug seiner rund 300.000 Soldaten getroffen und leitete Anfang September die planmäßige Absetzbewegung aus Griechenland, Mazedonien und Albanien ein. Mitte Dezember fanden seine Truppen in Kroatien wieder den Anschluß an die deutsche Front.
Für Rumäniendeutsche begann im Herbst 1944 eine Odyssee
Der Frontwechsel im August 1944 hat Rumänien vor einer völligen Zerstörung durch den Krieg bewahrt, auch wenn die folgenden Kämpfe mit den Deutschen und Ungarn noch ho0he Verluste (etwa 150.000 Mann) fordern sollten. Für die Einwohner Rumäniens deutscher Volkszugehörigkeit bedeutete er hingegen eine Katastrophe. Eine organisierte Evakuierung der rund 400.000 Siebenbürger Sachsen und der 200.000 im Westen des Landes siedelnden Banater Schwaben war in der Kürze der Zeit unmöglich, bereits am 10. September marschierten die russischen Truppen in Hermannstadt ein. Im Banat drangen deutsche Einheiten aus Serbien zwar kurzzeitig vor, um die Flucht von etwa 12.000 Banater Schwaben zu ermöglichen, aber Anfang Oktober eroberte die Rote Armee Temeschburg. Nur aus dem noch länger gehaltenen Nordsiebenbürgen, das seit dem Wiener Schiedsspruch 1940 zu Ungarn gehörte, konnte im September und Oktober 1944 der größte Teil der deutschen Bevölkerung, 60.000 bis 70.000 Menschen, evakuiert werden.
Die meisten Volksdeutschen Rumäniens hingegen sahen sich nun der Willkür eines mit der Sowjetunion verbündeten Staates ausgesetzt, der sie als „Kollaborateure Hitlers“ kollektiv entrechtete und ihnen ihren gesamten Besitz (Felder, Häuser, Vieh und Maschinen) und vielfach auch das Leben nahm. Stalin verlangte zudem Ende 1944 als „Reparationsleistung“ die Deportation von 100.000 Volksdeutschen als Zwangsarbeiter in die Sowjet-union. Nachdem sie mit ihren Einwänden dagegen von den westlichen Allliierten keine Unterstützung erfahren hatte, stimmte die rumänische Regierung zu. Vom Januar 1945 an wurden zwischen 70.000 und 80.000 Volksdeutsche, Männer und Frauen, aus Rumänien in die Sowjetunion verschleppt und bis Ende 1949 zur Zwangsarbeit, meist in Kohlebergwerken und der Schwerindustrie, eingesetzt. 10.000 überlebten die Tortur nicht. Die nach Auflösung der sowjetischen Arbeitslager im Oktober 1949 entlassenen Volksdeutschen kehrten in der Regel in ihre nun sozialistische Heimat zurück.
Fotos: Rumänische Einheit paradiert nach der gemeinsamen Eroberung mit der Roten Armee durch Bukarest, September 1944: Für die Deutschen war der Seitenwechsel eine Katastrophe
Der Zusammenbruch der Balkanfront 1944, Mit dem Seitenwechsel Rumäniens kann die Rote Armee bis nach Ungarn und Serbien vordringen