© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/24 / 30. August 2024

„Nicht die Messer sind das Problem“
Solingen: Auf die tödliche Gewalttat eines abgelehnten Asylbewerbers reagiert die Politik mit hilflosen Ritualen
Gregor Hierholzer / Daniel Holfelder

Es sind nur drei Wörter, aber aus der jüngeren deutschen Geschichte sind sie schwerlich wegzudenken: „Wir schaffen das“, bekräftigte Angela Merkel am 31. August 2015. Die damalige Kanzlerin meinte die Aufnahme Hunderttausender Migranten, ein Großteil davon aus dem Bürgerkriegsland Syrien. 

Fast auf den Tag genau neun Jahre später ist Merkel im politischen Ruhestand und ihre Partei, die CDU, will die Einwanderung aus Syrien beenden. Nach dem Terroranschlag auf einem Stadtfest in Solingen, wo am Freitag voriger Woche der aus Syrien stammende Islamist Issa al-H. drei Menschen getötet und sechs weitere zum Teil schwer verletzt hatte, schrieb der Parteivorsitzende Friedrich Merz in einem offenen Brief: „Nach Syrien und Afghanistan kann abgeschoben werden, weitere Flüchtlinge aus diesen Ländern nehmen wir nicht auf.“ Aus Afghanistan kam jener Attentäter, der Ende Mai in Mannheim eine islamismuskritische Kundgebung angegriffen und dabei dem Polizisten Rouven L. das Leben genommen hatte.

Merz traf sich zu einem Krisengespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz und berief im Anschluß eine Pressekonferenz ein, auf der er einen konkreten Weg zu schärferen Asylgesetzen skizzierte. Erstens sollen Scholz für die Regierung und er selbst für die Opposition je einen Beauftragten benennen, um schnelle Lösungen zu erarbeiten. Zweitens solle während der nächsten Sitzungswoche im Bundestag, die am 9. September beginnt, geklärt werden, welche Gesetze gemeinsam geändert werden können. Drittens drängte er deshalb den Bundeskanzler dazu, bei Abstimmungen über die entsprechenden Gesetze den Fraktionszwang aufzuheben. Der CDU-Chef brachte sogar die Möglichkeit ins Spiel, den nationalen Notstand auszurufen, um EU-Recht umgehen zu können.

Auch eine seiner zentralen Forderungen bezieht sich auf die EU-Ebene, konkret darauf, die sogenannten Dublin-Regelungen wieder einzuhalten. Diese legen fest, daß Asylverfahren in dem EU-Staat durchgeführt werden müssen, in den ein Asylbewerber zuerst eingereist ist. Dies hätte auch im Fall von Issa al-H. passieren müssen. Der 26jährige, den die Bundesanwaltschaft für ein Mitglied der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) hält, reiste nach jetzigem Kenntnisstand 2022 über Bulgarien in Bundesrepublik ein. Die deutschen Behörden beantragten gemäß Dublin-Abkommen seine Rückführung in das südosteuropäische Land, der die Bulgaren zustimmten. Allerdings entzog sich der Syrer der Maßnahme, indem er ein halbes Jahr lang untertauchte. Zur Fahndung sei er in dieser Zeit nicht ausgeschrieben worden, unter anderem weil er als unauffällig gegolten habe, berichtet der Spiegel. Nach dieser sechsmonatigen Überstellfrist ging die Zuständigkeit im August 2023 von Bulgarien auf Deutschland über – so sehen es die Regelungen vor. Al-H. tauchte wieder auf, erhielt subsidiären Schutz und wurde der Stadt Solingen zur Unterbringung zugeteilt. Dort lebte er bis zuletzt in einer Asylbewerberunterkunft. 

Ein Einzelfall ist die gescheiterte Überstellung des Islamisten nicht. Laut Innenministerium richtete Deutschland im vergangenen Jahr knapp 75.000 Übernahmeersuchen an andere EU-Mitgliedsstaaten. In rund 55.000 Fällen stimmten die europäischen Nachbarn den Ersuchen zu. Erfolgreich waren jedoch nur etwa 5.000 Überstellungen. Ein ähnliches Bild zeigt sich im ersten Halbjahr 2024. Knapp 37.000 Übernahmeersuchen und rund 21.000 Zustimmungen aus den EU-Mitgliedsstaaten stehen etwa 3.000 tatsächlich erfolgten Rückführungen gegenüber.

„Unverantwortliche Politik der offenen Grenzen“

Kaum höher ist die Zahl der Abschiebungen insgesamt, die im vergangenen Jahr bei etwas mehr als 16.000 lag, obwohl der Bundesregierung zufolge rund 242.000 Ausländer in Deutschland vollziehbar ausreisepflichtig sind. Die meisten davon stammen aus dem Irak (etwa 25.000), gefolgt von Afghanistan (14.000) und der Türkei (13.500). Aus Syrien halten sich mit Stand 2023 rund 10.000 ausreisepflichtige Personen in Deutschland auf.

Die AfD nahm diese Zahlen vor dem Hintergrund des Anschlags zum Anlaß für eine Generalabrechnung – nicht nur mit der Bundesregierung, sondern vor allem mit Friedrich Merz und der Union. CDU und CSU hätten mit ihrer ab 2015 betriebenen „unverantwortlichen Politik der offenen Grenzen den beispiellosen Zerfall der inneren Sicherheit in Deutschland“ herbeigeführt und „jegliche Glaubwürdigkeit in Fragen der Einwanderungs- und Sicherheitspolitik verspielt“, kritisierte die Parteivorsitzende Alice Weidel. „Mit einer Merz-CDU, die mit den Grünen koaliert und diese desaströse Politik weiter mitträgt, wird es keine Migrationswende geben. ‘Rechts blinken und links abbiegen’ verfängt beim Bürger nicht mehr.“

Kurz zuvor war Kanzler Scholz zum Tatort nach Solingen gereist und hatte bereits angekündigt, häufiger abschieben zu wollen. Zur praktischen Umsetzung dieses Ziels äußerte sich der SPD-Politiker allerdings vage und sprach von unbestimmten „rechtlichen Regeln und konsequenter, praktischer Vollzugstätigkeit“, um die Abschiebezahlen zu erhöhen. 

Zudem knüpfte Scholz an den Vorstoß seiner Parteikollegin Nancy Faeser an und versprach eine baldige Verschärfung des Waffenrechts, insbesondere mit Blick auf den Einsatz von Messern. Die Bundesinnenministerin hatte schon vor dem Terroranschlag darauf gepocht, Messer mit einer Klingenlänge von mehr als sechs Zentimetern im öffentlichen Raum grundsätzlich zu verbieten. FDP-Justizminister Marco Buschmann, dessen Partei den Vorschlag bisher abgelehnt hatte, signalisierte in der Bild-Zeitung Gesprächsbereitschaft. „Wir werden nun in der Bundesregierung darüber beraten, wie wir den Kampf gegen diese Art der Messer-Kriminalität weiter voranbringen“, sagte er.

Erst in der vergangenen Woche waren Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) öffentlich geworden, wonach immer mehr Menschen schwer durch Messerangriffe verletzt werden. Seit 2014 sei die Zahl der Personen, die wegen schwerer Messerverletzungen auf deutschen Intensivstationen (ITS) behandelt werden mußten oder dort daran verstarben, um mehr als 50 Prozent gestiegen, zitierten die Neue Zürcher Zeitung und die Berliner Zeitung aus einem unveröffentlichten DGU-Bericht.

Der Befund deckt sich mit Zahlen der Bundespolizei, die 2023 in ihrem Einsatzbereich – vorwiegend Bahnhöfe und Züge – einen Höchststand von Messerangriffen feststellte. Ausländer seien bei den rund 853 Delikten stark überrepräsentiert gewesen, teilte der Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, mit. Statistisch hätten sie sechsmal häufiger zum Messer gegriffen als deutsche Staatsbürger. Insgesamt gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) im vergangenen Jahr fast 9.000 Fälle von gefährlicher und schwerer Körperverletzung mit der Tatwaffe Messer.

Daß ein Verbot das Problem lösen kann, halten die CDU und die AfD indes für eine Illusion. „Nicht die Messer sind das Problem, sondern die Personen, die damit herumlaufen. In der Mehrzahl der Taten stehen islamistische Motive dahinter“, schrieb Friedrich Merz in seinem Brief. Alice Weidel kanzelte Faesers Vorschlag schon vor Wochen ab: „Die Symbolpolitik der Bundesregierung kennt keine Grenzen: Statt erlaubte Messer auf sechs Zentimeter zu kürzen – was jedem Straftäter herzlich egal ist –, sollten diejenigen abgeschoben werden, die für die täglich wachsende Anzahl von Messerattacken verantwortlich sind.“

Derweil sind ausländische Tatverdächtige nicht nur bei Messerangriffen überrepräsentiert. In der PKS für 2023 machten sie  mehr als ein Drittel aller ermittelten Tatverdächtigen aus, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung etwa 15 Prozent betrug. 


Fotos: Tatverdächtigen Syrer Issa al-H. zur Generalbundesanwaltschaft: Subsidiärer Schutz in Solingen / Innenminister Reul, Ministerpräsident Wüst, Bundeskanzler Scholz, Oberbürgermeister Kurzbach und Wirtschaftsministerin Neubaur (v.l.n.r.) am Tatort: Vage und unbestimmt