Kurz vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen liegen die Nerven blank in den Parteizentralen der Ampel-Koalitionäre, denen alle Umfragen ein Desaster voraussagen. AfD und BSW dürfen auf gute Ergebnisse hoffen, erreichen zusammen zwischen 47 und 50 Prozent. Parlamentarische Mehrheiten gegen beide Parteien sind damit unwahrscheinlich. Ob der erwarteten politischen Zäsur der Bruch des Ampel-Bündnisses in Berlin folgt, scheint zumindest nicht ausgeschlossen.
Schlüsselthema der etwa 4,9 Millionen Wahlberechtigten in beiden Ländern zusammen ist die Begrenzung der Migration, betonte Hermann Binkert, Geschäftsführer des Erfurter Meinungsforschungsinstituts Insa, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. In Thüringen seien es 51, in Sachsen sogar 56 Prozent der tausend repräsentativ Befragten nach der soeben abgeschlossenen Umfrage. Etwa 80 Prozent sind unzufrieden mit der Bundesregierung. Spitzenwerte. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) plant gar die Aufstellung einer sächsischen Grenzpolizei nach dem Vorbild Bayerns. Neben der Migration bewegen die Menschen die Themen Sicherheit und Bildung, aber auch der Rußland-Ukraine-Krieg.
Die Unruhe ist groß, da völlig unklar ist, wer in beiden Freistaaten die nächsten fünf Jahre regieren wird. In Sachsen wird Kretschmer eine neue Koalition bilden, die einzige Konstante nach einem hart geführten Wahlkampf. Das bisherige Bündnis aus CDU, SPD und Grünen gilt als Auslaufmodell. Klare Kante des Amtsinhabers: „Eine Regierungsbeteiligung der Grünen kommt für die CDU nicht mehr in Frage.“ Unsicher ist, ob die Öko-Partei und auch die SPD es überhaupt in den Landtag schaffen.
Da Kretschmer ein Bündnis mit der AfD kategorisch ausschließt (Stichwort „Brandmauer“), die FDP mangels Masse unter „Sonstige“ firmiert, ist die Zahl der Koalitionspartner überschaubar. Unter den „Sonstigen“ werden auch die rechtsradikalen „Freien Sachsen“ gezählt, die der AfD Wähler abspenstig machen wollen. Die Wagenknecht-Partei kommt den Umfragen zufolge auf etwa 15 Prozent, die CDU, die sich mit der AfD ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefert, wird mit 30 Prozent gehandelt. Schwierig, denn Kretschmer scheint von der BSW-Chefin nicht allzuviel zu halten. „Wenn es nicht genau so läuft, wie Frau Wagenknecht das will, dann zieht sie den Stecker.“ Zu Kretschmers Verdruß hat die streitbare Dame bereits angekündigt, sie werde in den Koalitionsverhandlungen bei Tische sitzen. In Sachen AfD zeigt sie sich flexibel. „Wenn die AfD sinnvolle Anträge stellt, sollte man zustimmen, statt ihnen mit einer Ablehnung eine Steilvorlage zu liefern“, sagt die Pragmatikerin der Macht.
Und würde es überhaupt reichen für CDU und BSW? Die SPD hat sich bereits als Notnagel angeboten. Scheitert sie ebenso wie die Linkspartei an der Fünf-Prozent-Hürde, wird es knifflig. Ein Drei-Parteien-Parlament aus AfD, CDU und BSW? Die AfD ist überzeugt, daß an ihr kein Weg vorbeiführt. Und es gibt noch eine Unbekannte. Die einst dominierende Linke liegt bei nur vier Prozent, könnte aber durch zwei Direktmandate ins Landesparlament einziehen. Die linke Plattform Campact unterstützt deshalb die SED-Nachfolger finanziell. Bei einem Dreiparteienparlament könnte die AfD mittels einer Sperrminorität wichtige Entscheidungen beeinflussen, etwa im Richterwahlausschuß.
„Werde dann noch sehr lange Ministerpräsident sein“
Wird der lange Zeit politisch stabile Freistaat unregierbar? 19 Parteien treten an, darunter auch die liberalkonservative Werteunion von Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, der eine Brandmauer gegenüber der AfD ablehnt. Er hält einen Einzug in den Landtag für greifbar nahe. Jedenfalls sind die Zeiten vorbei, als „König Kurt“, Kurt Biedenkopf, 58,1 Prozent für die CDU holte. Das war vor 30 Jahren.
Seinerzeit war auch Thüringen ein sicheres CDU-Land. Die Allzweckwaffe Bernhard Vogel erreichte 1999 satte 51 Prozent. Jetzt kämpft Parteichef Mario Voigt mit geringer öffentlicher Resonanz um die Nachfolge von Bodo Ramelow, dem einzigen Regierungschef der Linkspartei, die in den Umfragen nur noch auf rund 14 Prozent kommt. Vor fünf Jahren waren das noch stolze 31 Prozent, die allerdings mit SPD und Grünen nur zu einer Minderheitsregierung reichten. Seit 2014 sitzt er in der Thüringer Staatskanzlei, mit einer einmonatigen Unterbrechung Anfang 2020. Am 5. Februar passierte der „Dammbruch“, denn CDU, FDP und AfD wählten FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich zum Nachfolger Ramelows. Auf Geheiß der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wurde die Wahl „rückgängig“ gemacht, das heißt Kemmerich trat zurück, Ramelow nahm wieder Platz auf dem Stuhl des Ministerpräsidenten.
Wie in Sachsen scheinen auch in Thüringen stabile Mehrheitsverhältnisse eher unwahrscheinlich. FDP und Grüne werden mit drei bis vier Prozent gemessen, dürften als Koalitionspartner ausfallen. Kemmerichs Landespartei erhielt wegen des „Dammbruchs“ keinerlei Unterstützung der Bundespartei. Auch die SPD liegt in den Umfragen nur knapp über fünf Prozent, macht sich aber wie in Sachsen Hoffnungen auf eine Koalition mit CDU und BSW. Regierungschef Ramelow dürfte also sein Amt verlieren, denn die CDU hält auch gegenüber der Linken die Brandmauer hoch.
Spitzenkandidat Voigt würde sich wohl auf ein Bündnis mit dem BSW und der SPD einlassen, findet lobende Worte für die BSW-Spitzenkandidatin und Ex-Linke Katja Wolf, die frühere Oberbürgermeisterin von Eisenach. Voraussetzung wäre allerdings, daß die CDU vor der Wagenknecht-Partei durchs Ziel läuft. Beide Parteien liegen in den Umfragen bei rund 20 Prozent mit leichtem Vorteil für die CDU. Daß Wagenknecht Initiativen zur Beendigung des Ukrainekriegs und ein Nein zur Stationierung neuer US-amerikanischer Raketen in Deutschland zu Koalitionsbedingungen machen will, dürfte Verhandlungen erschweren.
Und die vielgeschmähte AfD des Björn Höcke? Der Wahlkampf verlief nach dem Motto „Alle gegen die AfD“, auch durch Kampagnen der Wirtschaft („Made in Germany, made by Vielfalt“). Mehr als 40 Familienunternehmen wollten dadurch zum Ausdruck bringen, wie wichtig angesichts des Fachkräftemangels ein weltoffenes Deutschland sei – und daß die AfD ein solches gefährde. Thüringen stehe an der Abbruchkante zur wirtschaftlichen Katastrophe“, mahnte die Vorsitzende des Landesverbands der Familienunternehmer, Colette Boos-John.
Dennoch liegt die rechtskonservative Partei uneinholbar bei etwa 30 Prozent. Niemand will aber mit ihr koalieren, mit Ausnahme der Werteunion, wie Spitzenkandidat Albert Weiler, ein früherer CDU-Bundestagsabgeordneter, betont. Eine Umfrage im Frühjahr taxierte die WU allerdings auf gerade mal ein Prozent. Unterdessen könnte die AfD aufgrund unklarer Formulierungen in der Verfassung auch ohne Regierungsverantwortung mit einer Sperrminorität von einem Drittel der Sitze einiges bewirken. Etwa bei der Wahl des Landtagspräsidenten. Vielleicht war es die Rechtslage, die Ramelow im Kopf hatte, als er auf einer hitzigen Wahlveranstaltung mit drohendem Unterton feststellte: Wenn keine demokratische Mehrheit zustande komme, „dann werde ich noch sehr lange Ihr Ministerpräsident sein. Ob es Ihnen gefällt oder nicht“.
„So geht Sächsisch“ und „Das ist Thüringen“
Gleich zwei Landtage werden am Sonntag neu gewählt, der eine in Dresden, der andere in Erfurt. Die beiden „neuen“ Länder, die sich 1990 neben Bayern als „Freistaat“ konstituierten. Staatsrechtlich ohne besondere Bedeutung, ist die Bezeichnung indes Hinweis auf ein besonders ausgeprägtes Identitätsbewußtsein, das auch in den aktuellen Slogans zum Ausdruck kommt. Gut so. Daß jedoch die ganze Republik am 1. September um 18 Uhr wie gebannt auf die Balkendiagramme starren wird, hat andere Gründe (siehe oben). 3,3 Millionen Sachsen und 1,66 Millionen Thüringer ab 18 Jahren dürfen an die Urnen. Gewählt wird für jeweils fünf Jahre, es gibt Erst- und Zweitstimme. Der Landtag in Dresden hat aktuell 119 Abgeordnete, der in Erfurt 88. Überhangmandate sind in beiden Parlamenten möglich. 19 Listen bewerben sich in Sachsen um Mandate, 15 sind es in Thüringen. Neben den im Bundestag vertretenen Parteien SPD, CDU, Grüne, AfD, FDP, Linke und BSW treten in beiden Ländern auch die ÖDP, die Freien Wähler, die Werteunion, das Bündnis Deutschland und die Piratenpartei an. In Sachsen außerdem noch die Freien Sachsen, Die Partei, Die Basis, das christliche Bündnis C und die Bürgerrechtsbewegung Solidarität (Büso). In Thüringen steht auch die linksextreme Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) auf dem Wahlzettel. (vo)