© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/24 / 30. August 2024

Kommt die große Klatsche?
Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen: In einer Woche entscheidet sich der Osten für zwei neue Regierungen. Wo CDU und AfD Erfolge erwarten, bangen andere. JF vor Ort
Martina Meckelein / Hinrich Rohbohm

Die Veranstaltung hat noch gar nicht begonnen, doch längst sind alle Plätze im Saal besetzt. Landtagswahlkampf in Sachsen. Die AfD hat ins Hotel Drei Schwanen nach Hohenstein-Ernstthal geladen, in die Geburtsstadt des Schriftstellers Karl May. 

„Macht mal Platz, da müssen noch Stühle hin“, ruft jemand von hinten. Das Publikum, ausnahmslos Anhänger der AfD, rückt enger zusammen, während aus einer Lautsprecherbox der Song „Needles and Pins“ der britischen Rockband Smokie vor sich hin dudelt. Rund 120 Gäste blicken erwartungsvoll auf die beiden Hauptredner des Abends, Ministerpräsidenten-Kandidat Jörg Urban und AfD-Parteichef Tino Chrupalla. 

„Wir haben immer recht gehabt. Die AfD ist erfolgreich, weil sie recht hat“, schwört Urban seine Anhänger ein. Zustimmendes Klatschen und Nicken. Der Spitzenkandidat greift einen Spruch auf, den die CDU auf ihren Wahlplakaten verbreitet. „Kriminelle hassen die CDU.“ Urban kontert: „Kriminelle hassen die CDU nicht, die lachen über die CDU.“ Gejohle im Saal.  

AfD-Chef Tino Chrupalla setzt noch einen drauf. „Wir werden belogen von früh bis spät“, schimpft er, bezeichnet Corona als „ein Verbrechen“ und nennt Kretschmer einen „Raubkopierer von der AfD“. Der örtliche Landtagskandidat und Bundestagsabgeordnete Mike Moncsek schießt noch eine Breitseite gegen die „verwöhnten Wessis“, meint damit allen voran NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst. „

„Wenn ihr mit den Grünen koaliert, dann ist Schluß!“

Unterdessen stehen AfD-Anhänger auch vor dem Hotel in Grüppchen zusammen, diskutieren über den möglichen Wahlausgang.  „Wenn SPD, Grüne und Linke rausfliegen, können wir es schaffen, dann ist die absolute Mehrheit drin“, meint einer von ihnen. Die um ihn Herumstehenden nicken. Wissend, daß dadurch erstmals eine AfD-Landesregierung zustande kommen könnte. Jörg Urban wäre dann neuer Ministerpräsident Sachsens. Was würde er tun? Im Gespräch mit der JF muß er darüber zunächst ein wenig nachdenken. Für eine Weile blickt er etwas ratlos wirkend ins Publikum. „Das werden wir dann sehen. Erstmal müssen wir als AfD so stark werden, daß niemand an uns vorbeikommt.“ Urban spricht dabei nicht von den laut Umfragen zu erwartenden 30 Prozent. Die wären für ihn „eine Enttäuschung.“ „Ich gehe davon aus, daß wir 40 Prozent holen“, sagt er und zeigt ins Publikum. „Haben Sie das hier heute gesehen? “, präsentiert er die zahlreichen Gäste als Beweis für die hohe Zustimmung seiner Partei. 

Auch der Meißener AfD-Landtagsabgeordnete Thomas Kirste rechnet mit einem höheren AfD-Ergebnis. „Ich gehe davon aus, daß wir ein ähnlich gutes Ergebnis holen wie bei der Europawahl.“ Da hatte seine Partei in Sachsen 38 Prozent erhalten. Die Hemmungen gegenüber der AfD seien gefallen. „Schüler kommen zu mir nach Veranstaltungen und wollen Fotos mit mir machen“, gibt er einen Einblick in seinen Wahlkampfalltag. 

Ähnlich optimistisch blickt aber auch die CDU auf die Wahl. „Wir werden stärkste Kraft bleiben“ meint CDU-Landtagskandidat Sven Eppinger im Gespräch mit der JF. Der 53 Jahre alte Hautarzt wird sich in seinem Meißener Wahlkreis 39 ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der AfD liefern. „Die Chancen stehen 50:50“, sagt er der JF. Es ist Samstag vormittag. Infostand-Zeit. Eppinger steht unter einem CDU-Sonnenschirm in seinem Heimatort Radebeul und diskutiert mit Bürgern. „Meine Stimme habt ihr, aber wenn ihr nochmal mit den Grünen koaliert, dann ist Schluß“, mahnt ein Bürger. Eppinger hört viele solcher Stimmen. Er selbst favorisiert eine Minderheitsregierung. „Alles andere würde der CDU nur schaden“, ist er überzeugt. Wie zur Bestätigung warnt ein weiterer Bürger am Stand vor Sahra Wagenknechts BSW. „Wenn ihr mit diesen Kommunisten gemeinsame Sache macht, seid ihr bei mir unten durch, dann habt ihr die Bürgerrechtler und die friedliche Revolution von 1989 verraten“, macht er klar.

Mittlerweile würde auch Ministerpräsident Michael Kretschmer eine Minderheitsregierung nicht ausschließen, sagt Eppinger. Das war nicht immer so. Lange hatte der Regierungschef das von Konservativen in der Sachsen-Union geforderte Modell abgelehnt. Über den Konservativen Eppinger dürfte Kretschmer nicht begeistert gewesen sein. Offenbar sollte dessen Kür noch wenige Stunden vor der Nominierung verhindert werden. Aus dem Umfeld der Staatskanzlei, wie einige in der CDU vermuten. Der Hintergrund: Eppinger ist Landeschef der konservativen sächsischen Heimatunion, einer Nachfolgeorganisation der jetzt als Partei antretenden Werteunion, zu der er und seine Mitstreiter bereits seit einigen Jahren auf Distanz gegangen sind. Dennoch setzte sich der Mediziner mit 39:20 Stimmen durch.

Sein Parteikollege Sebastian Fischer, Kandidat im Meißener Nachbarwahlkreis 37, ist, was eine Minderheitsregierung betrifft, skeptischer. „Bei einer Minderheitsregierung bist du auf jeden Hinterbänkler angewiesen, da ist es schwierig, gute Politik für das Land zu machen“, sagt er der JF. Gleichwohl sieht auch er eine Koalition mit den Grünen kritisch. „Besonders unsere Landwirte haben unter dieser Partei zu leiden.“ Der 42 Jahre alte selbständige Küchenmeister hat zum Sommerfest auf einen Geflügelhof nach Großenhain geladen. Grillwürste, Bier, Waffeln. Dazu Hornbläser, ein Spielmannszug und die Rede des Ministerpräsidenten haben auch hier mehr als 100 Leute angelockt. 

„Wenn wir durch überbordende Bürokratie unseren Leuten das Leben schwieriger machen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie sauer sind“, mahnt Kretschmer und plädiert statt dessen für mehr Freiraum für die Wirtschaft. Noch vor fünf Jahren stellte sich Kretschmer bei Sommerfest-Auftritten den Fragen der Bürger. Und mußte sich allerhand Kritik über eine mögliche Koalition mit den Grünen anhören, auf die er nicht immer souveräne Antworten hatte. Diesmal macht er es anders, geht hemdsärmelig von Tisch zu Tisch, um bei Wurst, Bier und Musik mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen.

Etwa 230 Kilometer entfernt, im zeitgleich ablaufenden Thüringer Wahlkampf, hat es Thüringens Noch-Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) hingegen nicht so mit der Volksnähe. Der geborene Wessi nähert sich dem Souverän erst nach einer Taschenkontrolle. Um 19.09 Uhr trifft er im mit Bier- und Bratwurstduft geschwängerten Innenhof des Café Nerly in der Erfurter Marktstraße ein. Jeder Zuhörer darf auf einem Kärtchen seine Frage an den MP schriftlich stellen. Der läßt sie sich, auf einem Stuhl sitzend, vorlesen. 

Die Frage nach Migrantenkriminalität beantwortet er mit einem „Whataboutism“: „Kennen Sie die Straftatenstatistik von Gewalttaten gegen Asylbewerber? Da liegen Thüringen und Sachsen am höchsten in ganz Deutschland.“ Ramelows Hemdsärmelattitüde als ruppiger Gewerkschaftssekretär, aber soziale und christliche Landesmutter, mag bei den vielleicht 150 Zuhörern ziehen, aber nicht bei der Mehrheit der Thüringer. Darüber werden den 68jährigen seine Berater und Referenten informieren. Im Zweifel kann er die Umfragen auch wöchentlich in den Zeitungen lesen. Die Mehrheit der Wahlberechtigten wird ihn, trotz seiner angeblichen Beliebtheit, die Umfragen sprechen von 50 Prozent Zuspruch nicht mehr ertragen wollen. Deshalb sollen die Schredder, so berichtet es eine interne Quelle der JF, hinter den Mauern der Kurmainzischen Statthalterei, dem Sitz der Thüringer Staatskanzlei in Erfurt, heißlaufen. Für einen nicht geringen Teil, der noch dort wurstelnden Referenten, Referats- und Abteilungsleiter heißt es: Koffer packen! Putzete, bevor der politische Gegner die Machtzentrale übernimmt. „Das ist immer so,vor einer Landtagswahl“, schmunzelt ein langjähriger Mitarbeiter. Dazu gehört auch die „Operation Abendsonne“ – Personalentscheidungen in letzter Minute – das koste zwar den Steuerzahler Millionen, sei aber ein normales Vorgehen. „Doch diesmal ist das Schreddern ausdauernder und lauter“, so der Mann. „Daß Ramelow abgewählt wird, ist sicher. Doch wenn er darauf spekuliert, daß CDU, BSW und SPD sich nicht zu einer Koalition zusammenraufen können, dann bleibt er womöglich – als Geschäftsführender.“ Wobei ja nicht mal klar sei, so der Mann, ob die SPD überhaupt in den Landtag komme.

  „Also, ich bin nicht am Packen“, schmunzelt Thomas L. Kemmerich (59). Sein Büro im 1. Stock des Thüringer Landtags liegt auf derselben Etage gegenüber dem von Ramelow. Vor Kemmerichs Büro steht übrigens das Hinweisschild: „Vorzimmer Ministerpräsident“. Es wurde nie ausgewechselt. Kemmerich, Spitzenkandidat der FDP, war 2020 der sechste Ministerpräsident, allerdings nur 27 Tage. Er war mit den Stimmen der AfD gewählt worden. Daraufhin sollen ihn der FDP-Parteivorsitzende Christian Lindner und die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) unter Druck gesetzt haben; seine Familie wurde bedroht, Er trat zurück. Der Unternehmer gab den Parteivorsitz nicht auf, blieb im Landtag. Seine Beziehung zu Lindner scheint unterkühlt. Die Bundes-FDP unterstützt seinen Wahlkampf mit keinem Cent. Das tun dafür private Spender – mit bisher 600.000 Euro.

Wagenknecht trifft auf höfliche Skepsis

 Der „Geächtete“, wie ihn die Südthüringer Zeitung nannte, spielt mit seinem Image, läßt Werbespots in James-Bond-Manier drehen. Und der damals von der Linken-Chefin Susanne Hennig-Wellsow ihm vor die Cowboystiefel geworfene Blumenstrauß wird nun triumphierend auf dem FDP-Wahlplakat präsentiert. Für den Wahlkampf zeigt er sich selbstsicher: „Ich weiß, daß Thomas Kemmerich, daß ich ein gutes Angebot machen kann, Verantwortung für den Freistaat zu tragen. Ich weiß, mit wahrscheinlich unter 10 Prozent Stimmenanteil ist ein erneutes Amt als Ministerpräsident sicherlich schwierig. Aber es gibt eine Konstellation, wo ich wirklich in hohem Maße Verantwortung übernehmen kann. Ich sag nur eins, ich bring meine Familie in Sicherheit und werde nicht wieder zurücktreten“, sagt er der JF.

„Das ist doch das, was uns hier so ärgert“, sagt eine ältere Frau. Sie sitzt mit einer Bekannten auf einer Bank unter schattigen Bäumen auf dem Markt in Eisenach und wartet auf Sahra Wagenknecht. Die will um 17 Uhr die Wartburgstadt begeistern.  „Alle Parteien reden nur von der AfD und was die für Nazis sind. Die sollen sagen, was sie planen und wie teuer das wird.“ In der Unterhaltung der beiden Damen geht es während des Wartens allerdings nicht um politische Themen, sondern um die bildhafte Beschreibung des Auffindens einer Bekannten, die zwei Wochen tot in ihrer Wohnung gelegen habe. 

Die Leute beginnen plötzlich zu klatschen, die Damen springen von der Bank auf. Nein, Enttäuschung, es ist nur Katja Wolf, ihre frühere Oberbürgermeisterin und jetzige Spitzenkandidatin. Auch den früheren MDR-Moderator und BSW-Kandidaten Steffen Quasebarth wollen sie nicht hören. 40 Minuten später rauscht Wagenknecht endlich samt Ehemann in einer Limousine auf den Markt. Ordentlicher Beifall. Doch kein Jubel, keine Fahnen. In der Harald Schmidt-Show sagte Sahra Wagenknecht einmal, daß „wenig für Kapitalismus spricht“. Nun, wer jetzt in die Gesichter der rund 600 Zuhörer auf dem Marktplatz schaut, sieht höfliche Skepsis. „Nein, zwei Parteien kommen für mich nicht in Frage“, sagt eine Leipzigerin, die seit über 20 Jahren eine Pension in Erfurt betreibt. „Die BSW, denn das sind Kommunisten, und die AfD.“

 Die lädt mit ihrem Spitzenkandidaten Björn Höcke in Gera zum Wahlkampf. Auf dem Vorplatz vor dem Kulturforum stehen Polizisten, Absperrgitter, Gruppenkraftwagen. 2.000 Besucher, fast durchgängig AfD-Anhänger. So wie Samuel Aumüller (19). Er ist aus Coburg angereist, um Höcke zu sehen und „weil ich mit der Regierung nicht einverstanden bin. Die jetzige Politik entscheidet schließlich über die Zukunft der Jugend.“ Viele schwenken Fahnen mit Thüringer Wappen und AfD-Emblem. 

Doch jetzt, in dem Moment, in dem Höcke um 17.10 Uhr die Bühne betritt, ist kein Halten. 

„Ost-, Ost-, Ostdeutschland“, skandieren sie. Dann: „Höcke, Höcke“-Rufe. „Was für ein Anblick von hier oben“, ruft er ihnen zu. „Freunde, ich hab mich auf Gera wirklich gefreut, auf diesen Auftritt“, sagt er. „An dieser Stelle auch ein herzliches Willkommen an die Gegendemonstranten“, damit meint er die 200 Antifas und Linken hinter den Absperrgittern. Diskussionen mit dem gemeinen Bürger, das kann der Werteunion nicht passieren. Sie trifft sich unter Ausschluß der Öffentlichkeit auf einem Golfplatz in Wenigenlupnitz. Für den Weg von Eisenach dorthin empfiehlt die Bahn übrigens das Taxi. Hier, in einem Saal, trudeln etwas über 30 Konservative ein. Birgit Kelle, CDU-Mitglied, referiert zum Thema Kinder und Familie. Ihre Auffassung, daß Mütter nach drei Jahren Auszeit problemlos wieder einen Arbeitsplatz bekämen, provoziert Widerspruch. „Ich bin gestandene DDR-Bürgerin“, sagt Christine Schulz (80), Ärztin aus Eisenach. „In der Praxis kannst du nach drei Jahren aus dem Job, nicht mehr an dein altes Berufsleben anknüpfen, dann bist du draußen. Themen wie Sicherheit, Asyl und Wirtschaft sind für uns weitaus wichtiger.“

Mitten in den Ost-Wahlkampf platzt schließlich die Nachricht vom islamistischen Anschlag in Solingen. Für viele Bürger wird das Thema Migration dadurch zusätzliches Gewicht erhalten – ob es am Ende der CDU oder den Linken schadet, ist nicht abzusehen.


Fotos: Thüringens Ex-Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP): „Also, ich bin nicht am Packen“ / Sachsens Minister­präsident Michael Kretschmer in Großenhain: Der CDU-Politiker schließt eine Minderheitenregierung nicht mehr aus / AfD-Wahlkampfveranstaltung in Gera: Etwa 2.000 Besucher, fast durchgängig AfD-Anhänger