Ein Präventivschlag der israelischen Luftwaffe hat Israels Raketenabwehrschirm Iron Dome am 324. Tag des Gazakrieges eine Belastungsprobe erspart, der er vielleicht nicht gewachsen gewesen wäre. Mehr als 100 Kampfjets flogen Angriffe gegen Raketenabschußrampen im Südlibanon, um einen „unmittelbar bevorstehenden“ Angriff der Hisbollah abzuwehren. Diese schafften es trotzdem, mehr als 300 billige Katjuscha-Raketen sowie Drohnen abzufeuern und Akkon und andere Orte im Norden Israels zu treffen, ohne größere Schäden anzurichten. Denn auch das gehört zur Doktrin der Konfliktparteien: einerseits permanente, aber wenig wirkungsvolle Raketenangriffe, andererseits präzise, aber durchaus präventiv auszulegende Luftschläge.
Im konkreten Fall hatte die libanesische Terrormiliz schon vor Wochen angekündigt, mit täglich mehr als 6.000 Raketen Israel angreifen zu wollen und Drohnen folgen zu lassen, wenn die israelischen Streitkräfte bei ihren Angriffen auf die Hisbollah „auch nur einen Zentimeter zu weit gehen“ würden.
Und daß man auch gegenüber der Hisbollah eine rote Linie überschritten hatte, war Tel Aviv klar. Zuvor sah sich bereits der Iran gezwungen, militärisch gegen Israel vorzugehen. Auf die gezielte Tötung zweier iranischer Generäle auf dem iranischen Botschaftsgelände in Damaskus reagierte Teheran mit dem ersten Angriff auf Israel seit Errichtung der Islamischen Republik 1979 – um Stärke zu beweisen. Der Iran habe im jahrelangen Schattenkrieg mit seinem Erzfeind „so oft schon nicht zurückgeschlagen, daß das Regime in israelischen Sicherheitskreisen manchen als Papierkrieger galt“, konstatiert der Spiegel und verweist auf mysteriöse Explosionen in Waffenfabriken, Militäraktionen gegen Stützpunkte in Syrien, getötete Atomforscher und Generäle.
Hisbollah: Kein Interesse an Ausweitung des Krieges
Ähnlich die Auseinandersetzung mit der Hisbollah. Deren Führung mußte auf die Tötung des Dschihadistenführers Sayyed Fuad Shokr im Beiruter Stadtteil Dahiyeh am 30. Juli durch die israelische Luftwaffe reagieren, um nicht das Gesicht vor den eigenen Leuten und vor allem den Verbündeten zu verlieren. Gleichzeitig ist aber Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah bestrebt, keinen regionalen Krieg auszulösen. Die Losung der Terrororganisation lautet noch immer, keinen „Kampf auf Leben und Tod“ zu führen, sondern „Triumphe anzuhäufen, bis der endgültige Sieg errungen“ ist.
Die seit dem Massaker mit mehr als 1.200 Toten und den Geiselnahmen durch die Hamas am 7. Oktober von der Hisbollah abgefeuerten mehr als 7.500 Raketen und Hunderte von explosiven Drohnen, die zur anhaltenden Evakuierung von über 60.000 Zivilisten aus dem Norden Israels geführt haben, seien „Teil einer umfassenderen Strategie der iranischen Achse, die auf die Zerstörung Israels durch Angriffe von mehreren Fronten abzielt“, so Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, Danny Danon. Er forderte den UN-Sicherheitsrat auf, die Aggression der Hisbollah zu verurteilen und endlich die Resolution 1701 durchzusetzen, die eine Entwaffnung der Milizen im Südlibanon vorsieht.
Beide Seiten werten ihr Vorgehen am Sonntag als Erfolg. Israel verkündete, 270 Ziele angegriffen und Tausende Raketen und Abschußrampen zerstört zu haben. Die Hisbollah will dagegen ihrerseits elf israelische Kasernen (darunter mehrere im von Israel besetzten syrischen Gebiet) und Raketenabwehrstützpunkte getroffen haben. Ziel der erfolgreich beendeten Operation „Arbaeen-Tag“ seien nicht Zivilisten oder Infrastruktur gewesen, sondern militärische Standorte, die in direktem Zusammenhang mit der Attentatsoperation auf Fuad standen, so Nasrallah. Auch sei es gelungen, mittels der Raketen einen Korridor für Drohnen zu öffnen, die bis zum militärischen Hauptquartier des Militärgeheimdienstes nahe Tel Aviv geflogen seien.
Die erste Phase der Vergeltung sei damit „zunächst abgeschlossen“, so Nasrallah. Man werde sich weiterhin bemühen, „das Gleichgewicht der Abschreckung zu wahren“, aber das Kriegsgebiet immer dann ausweiten, wenn der Feind dies tue oder weiterhin Attentate auf Kommandeure des Islamischen Widerstands verübe. Auf gemeinsame, koordinierte Angriffe mit dem Iran oder den Huthi-Rebellen habe man bewußt verzichtet, auch auf den Einsatz wirkungsvollerer Raketen. Trotzdem lobten die Huthi den „großen und mutigen Angriff“, und die Hamas sprach von einem „Schlag ins Gesicht“ der israelischen Regierung.
Israels Raketenabwehrschirm ist bis dato nicht überlastet
Israel selbst konnte bisher alle Angriffe auf seine Bevölkerungszentren und die Infrastruktur unterbinden, aber wohl nur, weil sein Raketenabwehrschirm bisher noch nicht überlastet wurde. Denn die Abwehr erfolgt je nach Priorität der erkannten Zielregion, was bedeutet, daß angreifende Raketen mit mehreren der knapp 50.000 Dollar teuren Abfanggeschosse eliminiert werden oder man sie sogar passieren läßt, wenn diese in die Wüste fliegen. Die Arsenalbestände der Hisbollah werden auf 150.000 Raketen geschätzt.
Die Hisbollah habe jetzt zwei Optionen, sagte der israelische Sicherheitsexperte Danny Citrinowicz vom Institut für nationale Sicherheitsstudien (INNS) unmittelbar nach dem Schlagabtausch: „Sie kann den Angriff als großen Erfolg darstellen und sagen, uns ist die Vergetung gelungen. Oder sie kann mit dem Angriff fortfahren.“ Offenbar hat sich Nasrallah für die erste Variante entschieden.
Keinen Durchbruch erzielten die parallel zu diesem militärischen Schlagabtausch stattfindenden Waffenstillstandsverhandlungen mit der Hamas, obwohl seit Mai ein unterschriftsreifer und von der Uno bestätigter Vertragsentwurf vorliegt. Die Delegationen der Konfliktparteien reisten nach kurzen Verhandlungen aus Kairo wieder ab, da sich Israel weigert, einem kompletten Truppenabzug aus dem Gazastreifen zuzustimmen. Grund ist der nur so zu unterbindende, vermutete Waffenschmuggel aus Ägypten an die Hamas.
Vergeblich hatte US-Außenminister Blinken bei Israels Premier Benjamin Netanjahu für einen Kompromiß geworben. Gleichzeitig hatten die USA ihr „eisernes Bekenntnis“ zur Verteidigung Israels gegen jegliche Angriffe erneuert. Das schreckt Iran und Hisbollah davor ab, sich von der Hamas in einen größeren Krieg verwickeln zu lassen, was wiederum bedeutet, daß „ein Waffenstillstand im Gazastreifen immer noch möglich ist“, wie die Jerusalem Post schreibt und konstatiert: „Die Zukunft ist höchst ungewiß, aber die erste Runde ist an Israel gegangen.“ Die ägyptischen Vermittler sehen das allerdings anders. Sie sprechen von einer „schwierigen Pattsituation“.
Foto: Der pro-iranische Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah grüßt seine Anhänger in einem südlichen Vorort von Beirut: „Wir werden Triumphe anhäufen, bis der endgültige Sieg errungen ist“