© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/24 / 30. August 2024

Hilferuf aus dem Todestrakt
Kino I: Mit „Manche Lügen sterben nie“ feiert der solide gemachte Kriminalfilm eine Wiederauferstehung
Dietmar Mehrens

Schlafende Hunde soll man ja eigentlich nicht wecken, aber Roy Freeman (Russell Crowe) hat einen triftigen Grund, sich nicht an diesen Ratschlag zu halten. Wenn man die Wohnung des ehemaligen Ermittlers der Mordkommission betritt, trifft man überall auf Klebestreifen. Sie geben die Richtung an, in die man sich begeben muß, um bestimmte Örtlichkeiten zu erreichen, den Inhalt des Kühl- oder Schlafzimmerschranks, Dinge, die für normale Menschen eine Selbstverständlichkeit sind. Und irgendwo klebt auch die Erklärung für alle diese detaillierten Instruktionen: „Du hast Alzheimer.“

Keine idealen Voraussetzungen, um einen alten Mordfall wieder aufzurollen. Doch der zum Tode verurteilte Isaac Samuel (Pacharo Mzembe), der Freeman über seine Anwältin aus dem Todestrakt kontaktieren läßt, überzeugt ihn von der Dringlichkeit seiner Angelegenheit. Isaac, verurteilt, weil er einen wohlhabenden Psychologen mit einem Baseballschläger erschlagen haben soll, versichert, Opfer eines Justizirrtums zu sein.

Russell Crowe spielt den an Alzheimer Erkrankten uneitel

Der Polizist a.D., der an einer experimentellen Therapie teilnimmt, um seinen Gedächtnisschwund zu stoppen, hat von seiner Ärztin die Empfehlung bekommen, sich sogenannten „Trigger“-Elementen auszusetzen, die sein Gedächtnis stimulieren können. In vernünftigem Deutsch: Wenn er durch die Beschäftigung mit einem früheren Fall sein Erinnerungsvermögen aktivieren kann, ist das für seine Behandlung förderlich. Freeman fährt also ins Gefängnis und unterhält sich mit Isaac. Der zeigt sich überzeugt, daß der Ex-Polizist die Wahrheit kennt und ihn vor der Hinrichtung bewahren kann.

Freeman willigt ein, erneut in dem Mordfall zu ermitteln, durchwühlt alte Akten und befragt seinen ebenfalls bereits im Ruhestand befindlichen Kollegen Jimmy (Tommy Flanagan). Doch der rät dringend davon ab, die schlafenden Hunde zu wecken. Als Freeman entdeckt, daß es zwei Versionen von Ermittlungsakten gibt, solche mit seiner und Jimmys Unterschrift und solche, auf denen seine Unterschrift fehlt, wird er stutzig. Merkwürdig findet er auch den plötzlichen Tod von Richard Finn (Harry Greenwood), von dem viele Fingerabdrücke am Tatort zu finden waren.

Raffiniert erzählt die Verfilmung des Romans „Das Buch der Spiegel“ (2017) nun aus unterschiedlichen Perspektiven, geht dabei aber anders vor als der rumänischstämmige Autor Eugen O. Chirovici in seiner Vorlage. Zunächst wird Richard Finns Version der Umstände gezeigt, die zu dem Mord führten. Er hatte sie zu Papier gebracht – und damit seine Ex-Freundin Laura Baines in Verdacht. 

Freeman, dessen Gedächtnis auch dank der Therapie immer besser funktioniert, sucht nun nach der geheimnisvollen Laura. Als er sie findet und zur Rede stellt, kommt ein Stein ins Rollen, der am Ende mehr Leute erschlägt, als ihm lieb sein kann.

„Sleeping Dogs – Manche Lügen sterben nie“ erinnert an die große Zeit des Kino-Kriminalfilms der achtziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, an klug erdachte Geschichten wie Sidney Lumets „Der Morgen danach“ (1986) mit Jane Fonda, „Suspect – Unter Verdacht“ (1987) mit Cher und Dennis Quaid oder „Aus Mangel an Beweisen“ (1990) mit Harrison Ford. Das Genre steht heute leider stark im Schatten der oft seelenlosen Superheldencomic-Verfilmungen und des Spezialeffekte-Kinos. Regisseur Adam Cooper, der auch am Drehbuch mitschrieb, zeigt, daß es aber immer noch zu fesseln weiß und eine verzwickte Geschichte oft mehr Faszination ausübt als eine für fragwürdige Ideologien verzweckte.

Ohne einen Hauch von Eitelkeit spielt Russell Crowe die Hauptrolle des in die Jahre gekommenen Polizeibeamten, der sich selbst nicht mehr kennt, und überspielt mit seiner Leinwandpräsenz die in Anbetracht der Thematik erwartbaren Logiklöcher. Karen Gillan als zwielichtige Karrieredame Laura Baines sorgt für das nötige Knistern zwischen den Geschlechtern. Und wer kein allzu abgezockter Kinogänger ist, den wird auch die Wendung am Schluß verblüffen.

Die raffinierte Komposition des Krimidramas läßt darüber hinwegsehen, daß die Alzheimer-Erkrankung des Protagonisten sich vermutlich nicht so ganz zur Deckung bringen läßt mit den Erfahrungen, die Angehörige in ihrem eigenen privaten Umfeld mit Betroffenen gemacht haben. 

Foto: Ex-Polizist Roy Freeman (Russell Crowe) befragt den zum Tode verurteilten Isaac Samuel (Pacharo Mzembe): Opfer eines Justizirrtums?

Kinostart ist am 29. August 2024