Selten hat ein Künstler zu Lebzeiten solche Ablehnung bei Zunftgenossen erfahren, selten haben einen Komponisten Kritiker so verrissen, wie es Anton Bruckner widerfahren ist. „Bei Bruckner handelt es sich gar nicht um musikalische Werke, sondern um einen Schwindel, der in ein, zwei Jahren vergessen sein wird. Bruckners Werke unsterblich, oder vielleicht gar Sinfonien? Es ist zum Lachen.“ So Johannes Brahms.
Wenn dann aber dessen damaliger musikalischer Antipode Richard Wagner Bruckner als „größten Sinfoniker seit Beethoven“ ansah, war es unvermeidlich, daß Bruckner in die Fronten zwischen den „Neudeutschen“ (um Liszt, Cornelius und Wagner) und den Brahmsianern geriet und dabei aufgerieben wurde. Der Kritiker Eduard Hanslick sprach bezüglich der Sinfonie Nr. 8 von „unvermitteltem Nebeneinander von trockener, kontrapunktischer Schulweisheit und maßloser Exaltation.“ Aber Bruckner konnte in seinen letzten zehn Lebensjahren konstatieren, daß seine Wertschätzung im Steigen war, spätestens nach den triumphalen Aufführungen seiner 7. Sinfonie 1884 in Leipzig und München und insbesondere nach Ersterklingen seiner achten im Jahr 1892 war er anerkannt, blieb jedoch (wie man heute sagen würde) umstritten.
Gut 15 Jahre nach des Komponisten Tod gehörten einige von seinen Sinfonien (insbesondere die 4., die 7. und die 8.) zum musikalischen Kanon deutscher Konzertveranstaltungen. Dennoch gab es weit bis ins 20. Jahrhundert hinein ablehnende Stimmen: Bruckners Musik sei „halb unsinnig, halb großartig“ konstatierte Thomas Mann 1949; einige Jahre zuvor war der Komponist für Hans Pfitzner nur ein „überlebensgroßer Dilettant“, der eine einzige Sinfonie „neunmal komponiert“ habe. Heute füllt die Aufführung einer jeden Brucknersinfonie überall den Konzertsaal – obgleich die Musik sowohl an die Ausführenden wie auch die Hörerschaft nicht geringe Anforderungen stellt.
Kaiser Franz Joseph verleiht ihm eine Ehrenpension
Anton Bruckner kommt am 4. September 1824 in Ansfelden bei Linz als Sohn eines Dorfschullehrers zur Welt. Als Zehnjähriger erhält er ersten Orgelunterricht, 1837 wird er Sängerknabe im nahen Stift St. Florian. Jahre später wirkt er dort als Hilfslehrer und Stiftsorganist. 1855 unterzieht er sich der Lehrerprüfung für höhere Schulen und reist regelmäßig nach Wien, um dort bei dem berühmten Theoretiker Simon Sechter Kompositionsunterricht zu nehmen. Bald erfolgt die Übersiedlung nach Linz, wo Bruckner Domorganist wird. 1861 legt er am Konservatorium in Wien die Prüfung in Musiktheorie sowie im Orgelspiel ab. Dabei fiel seitens der Prüfungskommission der berühmte Satz: „Er hätte uns prüfen sollen.“
Eine Aufführung von Wagners „Tannhäuser“ 1863 in Linz wird zum bestimmenden künstlerischen Erlebnis und löst in dem bereits 40jährigen den eigentlichen Drang zum Komponieren wie den Wunsch, Wagner kennenzulernen, aus. Die 1864 erstaufgeführte d-Moll-Messe ist Bruckners erstes vollgültiges Werk, jetzt entsteht auch die später mit „gilt nicht“ verworfene d-Moll-Sinfonie (heute die „Annullierte“ genannt). 1868 erfolgt die Übersiedlung nach Wien, wo er bis 1891 als Lehrer für Orgelspiel und Musiktheorie am Konservatorium tätig sein wird und alle Sinfonien ab der Nr. 2 entstehen. 1891 geht der Kränkelnde in Pension, erlebt die triumphalen Aufführungen der 8. Sinfonie. und (in Abwesenheit) 1894 die der Nr. 5. Kaiser Franz Joseph verleiht ihm eine Ehrenpension und gewährt Bruckner eine Art Ehrenwohnung am Belvedere, in der er am 11. Oktober 1896 stirbt. Beigesetzt wird er auf eigenen Wunsch in der Krypta des Stifts von St. Florian, genau unter der großen Orgel.
Bruckners musikalisches Werk besteht aus elf Sinfonien (darunter eine „Studiensinfonie“ ), einigen wenigen Kammermusikwerken (darunter das orchestral empfundene, hochbedeutende Streichquintett), drei großen Messen für Chor, Solisten und Orchester, dem Tedeum, einigen weltlichen kürzeren Chorwerken mit und ohne Orchester und zahlreichen geistlichen A-cappella-Chorstücken. Daneben gibt es einige kurze Klavierwerke sowie nicht allzu bedeutende, knapp gehaltene Orgelstückchen. Genau das überrascht. Denn obwohl Bruckner als Sinfonienkomponist anfangs größte Ablehnung erfuhr, wurde er zur gleichen Zeit europaweit (er konzertierte 1869 in Paris und 1871 in London und Paris) als genialer Orgelimprovisator gefeiert.
Quälende Selbstzweifel über
die Qualität seines Schaffens
Was wurde vor 150 Jahren in Bruckners Musik als so befremdlich angesehen? Zunächst die Länge der einzelnen Sinfoniesätze, die zum Teil 30 bis 35 Minuten (je nach Dirigent) dauern. Dann stellt Bruckner in seiner erweiterten Sonatensatzform nicht nur zwei Themen, wie es bis dahin üblich war, sondern drei Hauptthemen auf (die mit zusätzlichen eigenständigen Überleitungsmotiven verknüpft sind). Und das jeweilige erste Hauptthema steht am Satzbeginn nicht unvermutet vor uns, sondern erwächst aus einem fast mystisch zu nennenden „Urnebel“, der meist ein Streichertremolo ist. Überhaupt gilt: Das rein Thematische tritt gegenüber langen Entwicklungsvorgängen zurück, die in gewaltigen Steigerungen kulminieren, dann aber sehr oft abbrechen, um erneut unter größtem Spannungsaufbau dynamische Höhepunkte zu erreichen. Das läßt beim Hören den musikalischen Ablauf als mosaikartig, ja unzusammenhängend vernehmen und wird durch Bruckners Neigung, die Spannung durch Generalpausen zu erhöhen, noch verstärkt.
Hinzu kommt in manchen Sinfonien eine damals als recht bizarr und substanzlos empfundene Themenerfindung (Adagio der I.,) sowie seltsame Themenkombinierungen (das zweite Thema des Finales der III. verknüpft Choral und Ländler). Überhaupt liebt der Komponist bei den Gesangsthemen die Doppelgestalt, bei der zwei eigenständige Themen eine Symbiose eingehen. Dazu kommt eine schillernde chromatisch extensive und espressive Harmonik, eine Modulationsfreudigkeit ohnegleichen, mit der Bruckner nonchalant den Quintenzirkel durchstreift.
In den Sinfonien Nr. 2 bis Nr. 9 (dort auch im Finalfragment) läßt Bruckner am Ende des Finales das Hauptthema des ersten Satzes triumphal wiederkehren und gibt den Werken ganz bewußt eine zyklische Abrundung. Keine seiner Sinfonien endet in Moll, bei allen Kämpfen und musikalischer Dramatik schließt eine jede triumphal, in alles überstrahlender, sieghafter Klangpracht. Schnelle Tempi finden sich bei Bruckner (und auch dort nur eingeschränkt) in den Scherzi – „bewegt, nicht zu schnell“ ist seine meistgebrauchte Tempoüberschrift, sehr oft erscheint „Feierlich“. Überhaupt ist das Feierliche, gebunden an mäßige Tempi, eines der unmittelbaren Charakteristika von Bruckners Musik. Ihr wohnt daher eine sakrale Atmosphäre inne – bewirkt des weiteren durch choralartige Motive, durch weihevolle Akkordfolgen der Blechinstrumente –, doch ist es keine dezidiert kirchlich-katholische Aura, sondern eher eine pantheistische Naturmystik, die der Musik entströmt.
In dieser Deutung ist eine Brucknersche Sinfonie eine „überpersönliche“ Musik, in der sich Natur und All direkt in Musik umzusetzen scheinen und die Person des Komponisten nur als „Medium“ dient, wie es ähnlich auch für die Sinfonien von Jean Sibelius gilt. Für diesen Aspekt spricht weiterhin, daß bei immerhin sechs der Sinfonien die Hauptthemen des ersten Satzes nur auf Dreiklangsbrechungen aufgebaut sind, wie Naturlaute klingen (3., 4., 7.), in sich ruhen und wie eine Botschaft von oben wirken. Bei den anderen drei Sinfonien – es sind merkwürdigerweise alle die, die in c-Moll gehalten sind – vermeiden die Hauptthemen des jeweils ersten Satzes jede Dreiklangsmelodik.
Die Themen sind voller Unruhe, tasten und drängen im harmonischen Raum unsicher umher (am eindrucksvollsten der Beginn der 8. Sinfonie). Programmatische und illustrative Kontexte sind Bruckners Musik fremd, wenngleich es hier und da einige wenige poetische Stimmungsdeutungen gibt („Morgendämmerung. Mittelalterliche Stadt. Morgenweckrufe. Ritter sprengen hinaus ins Freie“ beziehungsweise „Der deutsche Michel träumt ins Land hinaus“ im Trio des Scherzos der 8. Sinfonie), die allerdings dem tatsächlichen Satzgehalt nicht entsprechen.
Diese kompositorisch hochartifizielle Musik schuf ein Mensch, der seine Herkunft aus bäuerlichem Milieu niemals ablegen konnte, um den sich seiner Naivität und Unbeholfenheit halber viele Anekdoten rankten. Damit beginnen die großen Widersprüche in seiner Person. Zu oft quälten ihn Selbstzweifel über die Qualität seines Schaffens, was wohlmeinde Freunde ausnutzten, ihn zu Umarbeitungen der Sinfonien anzuregen oder dies für ihn erledigten. Berüchtigt und belächelt war Bruckners Kleidung mit seinen zu weiten und zu kurzen Hosen, wobei er stets ein großes Schnupftuch mit sich führte, das bisweilen aus der Tasche heraushing.
Dazu kam eine tiefe Religiosität, wie sie von keinem anderen Musiker bekannt ist, abgesehen vielleicht von Bachs asketischem Protestantismus. Als Konservatoriumslehrer unterbrach er jeweils beim Mittagsläuten den Unterricht, um das Angelus zu beten. Sein Lebtag sehnte er sich nach einem Eheglück, war aber nicht imstande, bleibenden Kontakt zu Frauen aufzunehmen. Er lebte in einem halb freiwilligen Zölibat, blieb lebenslang „unberührt“.
Es entstand das Klischee von einem „Musikanten Gottes“, eines „reinen Toren“. Eine Zeitlang wurden in unkritischer Weise die Sinfonien als religiöse, ja liturgische Schöpfungen angesehen (Musikwissenschaftler Hans Ferdinand Redlich), man sprach von einer „durchchristeten Musik“. In besonderem Maß fühlte er sich zur Todessymbolik hingezogen. Als 1888 die Gebeine Beethovens und Schuberts auf den Zentralfriedhof umgebettet wurden, war Bruckner zugegen und es gelang ihm, beider Schädel kurz in den Händen zu halten.
Seit 1887 komponierte Bruckner an der 9. Sinfonie, die er „dem lieben Gott“ widmete. Keineswegs ist diese Sinfonie aber ein lichtvoll-frommes Werk, sondern im ersten Satz von Düsternis, im zweiten von dahindonnernden Dämonen, im Trio von huschenden Phantomen und im Adagio in weiten Strecken in schärfsten Dissonanzen von Todesfurcht erfüllt, die nur am Satzende milder Verklärung weicht.
Die Arbeit daran mußte Bruckner immer wieder unterbrechen. Teils aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands, teils aber durch Revisionsarbeiten an früheren Sinfonien. Die erste erhielt 1891 ihre (allerdings kaum gespielte) „Wiener“ Fassung, und auch die Nr. 8 wurde in eine neue Form gebracht; sie ist bis heute die annähernd einzig aufgeführte geblieben.
Noch an seinem Todestag arbeitete er an der 9. Sinfonie
Der unübersehbaren äußeren Hinfälligkeit Bruckners stand noch ein wacher Geist gegenüber. So konnte er im November 1893 den ersten Satz, im Februar 1894 das Scherzo und im November des gleichen Jahres das Adagio vollenden. Für den Fall, daß seine Kräfte nicht ausreichten, das Finale zu vollenden, bestimmte er, daß an dessen Stelle sein schon 1884 komponiertes Tedeum zu spielen sei. Denn Bruckner war sich bewußt, daß seine Sinfonie nicht mit dem Adagio schließen kann und darf. Doch erfolgt das in der Konzertpraxis fast nie. Zu schroff ist der Kontrast zwischen dem todessehnsüchtigen Adagio und jenem jubelerfüllten Chorwerk – wegen der Tonarten (E-Dur im Adagio und C-Dur im Tedeum), wie auch ideell beide als nicht zusammenpassend empfunden werden.
Bruckner begann im Februar 1895 das Finale und soll noch am Tage seines Todes daran geschrieben haben. Er plante mit diesem Satz anscheinend etwas ganz Außergewöhnliches: „Da wern sie sich giften, wenn sie das hörn“, meinte er 1894 mit Blick auf seine Kritiker.
Dieses Finalfragment umweht daher ein besonderes Geheimnis. Denn Bruckner hatte, was kaum zur Kenntnis genommen wurde, das Finale weitgehend vollendet. Er hat die Partiturbögen fortlaufend numeriert, allerdings fehlen einige, konzipiert ist dabei eine Satzlänge von 653 Takten. Durch die fortlaufende Numerierung der Seiten und die vorgegebenen Taktzahlen ist jedoch Bruckners Konzeption eindeutig erkennbar. Heute liegen zahlreiche Tonträger vor, die als Referenzaufnahmen gelten, unter anderem die unter Nikolaus Harnoncourt und Simon Rattle.
„Daß es Bruckner gegeben hat, ist für mich das schönste Geschenk Gottes“, sagte einst Sergiu Celibidache, als Dirigent in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Interpreten des Komponisten. Und man darf es ebenso als Gottesgabe ansehen, daß Bruckners Musik so beglücken und beseligen kann – vielleicht weil sich das ihr immanente glaubensstarke „Non confundar in aeternum“ – In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden“ – des Komponisten suggestiv auf den Hörer überträgt.
Foto: Anton Bruckner (1824–1896): „Nur einen kenne ich, der an Beethoven heranreicht, und das ist Bruckner.“ (Richard Wagner)
Felix Diergarten: Anton Bruckner.Ein Leben mit Musik. Bärenreiter-Verlag, Kassel 2024, gebunden, 240 Seiten, 29,99 Euro
Das Internationale Brucknerfest in Linz findet jedes Jahr vom 4. September bis 11. Oktober statt. Auf dem Programm stehen Konzerte auf verschiedenen Bühnen und in Kirchen. In Wien zeigt die Österreichische Nationalbibliothek zudem bis zum 26. Januar 2025 eine Auswahl ihrer einzigartigen Bruckner-Sammlung.
www.brucknerhaus.at
www.anton-bruckner-2024.at
Bild: Karikatur von Otto Böhler (1847–1913) auf Bruckner und seine Kritiker in Anlehnung an den Struwwelpeter: „Der Künstler wallt im Sonnenschein, die Tintenbuben hinterdrein.“