© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/24 / 30. August 2024

Israel als deutsche Staatsräson
Der Nahe Osten kommt näher
Thorsten Hinz

Im Nahen Osten werden die Kriegstrommeln gerührt, und in Deutschland wird die Frage aufgeworfen, ob man gegebenenfalls per „Staatsräson“ zum militärischen Engagement an der Seite Israels verpflichtet sei. Deutschland ist der nach den USA wichtigste und zuverlässigste Verbündete Israels – politisch, wirtschaftlich und auch militärisch. Die deutschen Rüstungsexporte nach Israel umfassen mehr als 300 Millionen Euro im Jahr. Von besonderer Bedeutung ist die Lieferung von Dolphin-U-Booten, die die vermutete nukleare Zweitschlag-Kapazität Israels sichern und die ganz oder zum großen Teil von Deutschland finanziert werden.

Begründet werden die Lieferungen nicht mit eigenen geostrategischen Interessen, sondern mit der historischen Schuld und Verpflichtung gegenüber dem jüdischen Volk. Kanzlerin Angela Merkel hob die Verpflichtung auf eine neue Stufe, als sie 2008 vor dem israelischen Parlament erklärte, die „historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“

Zu dieser Festlegung, die auch eine verfassungsrechtliche Dimension besitzt, war Merkel überhaupt nicht befugt. Willkürlich verknüpfte sie drei Elemente von unterschiedlicher Qualität. Die „historische Verantwortung“ ist eine Sache der Interpretation oder Zuschreibung und je nach Situation wandelbar. Die „Staatsräson“ hingegen ist verbindlich fixiert und transzendiert alle politischen Konjunkturen. Es geht um den Selbstbehauptungswillen des Staates und seine ultimative Entschlossenheit, den Bestand aus Staatsterritorium-Staatsmacht-Staatsvolk zu verteidigen. Die „Sicherheit Israels“ zu einem Teil der deutschen Staatsräson zu erklären bedeutet im Wortsinn, die eigene Staatsräson mit der eines anderen Staates organisch zu verknüpfen.

Im Ernstfall hieße das sogar, das essentielle deutsche Eigeninteresse der Staatsräson Israels unterzuordnen, denn was seine Sicherheitsinteressen sind, bestimmt der jüdische Staat allein. Es gibt in dem Punkt keine deutsch-israelische Reziprozität. Grundsätzlich müßte Deutschland bereit sein, für Israel in den Krieg zu ziehen, ohne effektiv Einfluß auf seine Politik nehmen zu können. Merkels Aussage ist geeignet, als Blankoscheck interpretiert zu werden und den Empfänger zu ermuntern, ins Risiko zu gehen und den Gläubiger gleichfalls in Gefahr zu bringen.

Bundespräsident Joachim Gauck nahm daher bei seinem Israel-Besuch 2012 eine Korrektur vor. Zwar sei die Sicherheit Israels für die deutsche Politik durchaus „bestimmend“, doch wolle er sich „nicht jedes Szenario ausdenken“, in das der Satz der Kanzlerin führen könne. Das hielt ihren Nachfolger Olaf Scholz nicht davon ab, im Oktober 2023 bei seinem Besuch in Israel kurz nach dem Hamas-Massaker zu wiederholen: „Die Sicherheit Israels und seiner Bürger ist Staatsräson.“

Die Kakophonie illustriert die Schwierigkeit deutscher Politiker, die Interessen und Prioritäten des eigenen Landes präzise zu definieren. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wirkt nach. Aus objektiven wie subjektiven Gründen tat man sich nach 1945 schwer, eine Staatsräson zu formulieren. Das Land war geteilt; beide Nachkriegsstaaten konstituierten sich unter der Vormundschaft ihrer jeweiligen Vormächte. In der Verfassung der DDR von 1974 hieß es, sie sei „für immer und unwiderruflich“ mit der Sowjet-union verbunden, weil das „das weitere Voranschreiten auf dem Weg des Sozialismus und des Friedens“ garantiere. Der Satrap des Roten Imperiums verklärte sein Unterwerfungsverhältnis zum eigenständigen, aus geschichtsphilosophischer Einsicht gefaßten Entschluß. 

Die Bundesrepublik war ebenfalls anhaltend verunsichert. In seiner ersten Regierungserklärung im Oktober 1982 sagte Helmut Kohl über die Nato: „Das Bündnis ist der Kernpunkt deutscher Staatsräson.“ Er wiederholte den Satz im Mai 1984 an der Universität Oxford und fügte hinzu: „Das Wort ‘Staatsräson’ drückt mehr und intensiver aus, als man in einer Nomenklatur, einer Verfassungsordnung formulieren kann.“ Er interpretierte sie gleichfalls als Subordination unter eine fremde Autorität. Wie aber konnte Israel eine derart herausragende Stellung in der Selbstinterpretation des deutschen Staates erlangen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland militärisch, politisch und moralisch vernichtet. Besonders schwer schlug der Massenmord an den europäischen Juden zu Buche. Der erste Bundeskanzler, Konrad Adenauer, betrachtete es daher als eine vordringliche Aufgabe, eine Wiedergutmachung in die Wege zu leiten. Am 10. September 1952 unterzeichneten er und der israelische Außenminister Moshe Scharet in Luxemburg ein Abkommen über Leistungen für einen Zeitraum von 12 bis 14 Jahren in einem Gesamtumfang von 3 Milliarden D-Mark. Für Adenauer gingen moralische mit realpolitischen Motiven – Reputationsgewinn! – Hand in Hand.  Ab 1956 wurde Israel unter strikter Geheimhaltung auch militärisch unterstützt.

Die Bundesregierung mußte dabei Rücksicht nehmen auf die Befindlichkeit der arabischen Staaten, die die deutsch-israelischen Kontakte mit Argusaugen beobachteten. Die DDR versuchte ihrerseits, mit einer dezidiert israelfeindlichen Haltung in den arabischen Ländern Sympathien  zu gewinnen, um sie zu veranlassen, die diplomatische Blockade, die Bonn über den SED-Staat verhängt hatte, zu durchbrechen. Erst 1965 wurden zwischen Bonn und Tel Aviv diplomatische Beziehungen aufgenommen, worauf mehrere arabische Länder ihre Botschafter zeitweilig abberiefen.

Im Sechstagekrieg 1967 – Israels Präventivkrieg gegen Ägypten, Syrien und Jordanien – erklärte sich die Bundesregierung für politisch neutral. Doch bekundeten Sprecher der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD, daß die neutrale Haltung „keine Gleichgültigkeit der Herzen bedeute“. Das war eine indirekte, aber deutliche Stellungnahme gegen die Vernichtungsdrohungen, die in der arabischen Welt gegen Israel ausgestoßen wurden. Die DDR ergriff Partei für „die um ihre Befreiung kämpfenden arabischen Völker“ und bezeichnete Israel als die „Speerspitze des US-Imperialismus“. Darin traf sie sich mit der radikalen Linken und Teilen der Studentenbewegung im Westen.

1969 wurde der Sozialdemokrat Willy Brandt zum Kanzler gewählt. Als erster Bundeskanzler reiste Brandt 1973 nach Israel. Zu einem proisraelischen Paradigmenwechsel aber kam es nicht. Dazu waren die politischen und wirtschaftlichen Kontakte zur arabischen Welt – insbesondere die Versorgung mit Erdöl – zu wichtig. Zudem war der Nahostkonflikt ein Nebenschauplatz der Ost-West-Konfrontation. Brandt, der die Entspannung mit dem Osten suchte, konnte und wollte es sich nicht leisten, die Sowjet-union, die auf seiten der Araber stand, zu desavouieren.

Im Jom-Kippur-Krieg 1973, der Israel zunächst an den Rand einer Katastrophe brachte, genehmigte er geheime Waffenlieferungen an den jüdischen Staat, doch die massenweise Verschiffung amerikanischen Kriegsmaterials über Bremerhaven führte zu einem schweren Konflikt mit der US-Regierung. Bonn pochte auf seine „vitalen Interessen“ und forderte kategorisch, die Lieferungen einzustellen. Sie gingen trotzdem weiter, aber der Konflikt zeigte, daß die Bundesrepublik in den Beziehungen zu Israel den realpolitischen Überlegungen Vorrang gab. Zwischen ihr und Israel, so Brandt, bestünden „normale Beziehungen mit besonderem Charakter“.

Einen psychologischen und politischen Einschnitt markierte die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ von Marvin C. Chomsky, die im Januar 1979 an vier Abenden auch über die deutschen Bildschirme flimmerte. Sie erzählte die Geschichte einer assimilierten jüdischen Familie aus Berlin, die im „Dritten Reich“ verfolgt, deportiert und größtenteils ermordet wird. Rund 20 Millionen Zuschauer, gut die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung, sahen mindestens eine Folge der Serie. 

Das mediale Ereignis war Teil einer politischen Entwicklung, die in den USA eingesetzt hatte. Die Serie hatte dort im Jahr zuvor eine „Schocktherapie für die Entwicklung einer jüdischen Identität“ bewirkt. So heißt es im Buch „The Holocaust in American Life“ des amerikanischen Historikers Peter Novick (1934–2012).

Die jüdische Diaspora in den USA hatte für die Fokussierung auf den Holocaust zwei Gründe. Zum einen sollte sie den bedrohten Zusammenhalt ihrer Gemeinden sichern. Zweitens wurde damit Unterstützung für Israel mobilisiert, dessen Situation sich im Jom-Kippur-Krieg 1973 als fragil erwiesen hatte. Novick beschreibt mit vielen Details, wie die Israel-Lobby die Öffentlichkeit sowie staatliche und private Institutionen in den USA als Unterstützer gewann. Die „Amerikanisierung des Holocaust“ rückte den Mord an den europäischen Juden weltweit ins Bewußtsein und teilweise in eine religiöse Dimension. 

Für die USA war das eine Gelegenheit, ihren globalen Machtanspruch ideologisch und moralisch zu flankieren. Die „ständige Konfrontation mit dem absolut Bösen gibt der amerikanischen Nation die immerwährende Möglichkeit, das Böse zu externalisieren und zugleich die Notwendigkeit der eigenen Mission, der freiheitlich-demokratischen Sendung, zu erneuern. Im Angesicht des Holocaust überzeugt sich die amerikanische Nation jeden Tag aufs neue, die einzig unersetzliche Nation der Welt zu sein“, schrieb der Amerika-Forscher Detlef Junker. Das historisch Böse aber verkörperte – Deutschland. Sein Verhältnis zu Israel wurde in den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit zum Test für seine moralische Akzeptanz.

Das wiederum hatte massive Rückwirkungen auf die Bundesrepublik. Der Begriff „Zivilisationsbruch“ zur Bezeichnung einer singulären, absoluten Tat fand weite Verbreitung; eine „zweite Schuld“ – die jahrzehntelange Verdrängung dieses Bruchs – wurde proklamiert. Den Themenkomplex umgab fortan eine zivilreligiöse Aura. Das war die geistige und emotionale Ausgangslage vor dem Mauerfall.

Der ereignete sich ausgerechnet am 9. November 1989, dem 51. Jahrestag des Juden-Pogroms 1938. Die spontanen Reaktionen aus Israel waren panisch, Warnungen vor einem „Vierten Reich“ wurden laut. Man fürchtete dort, das nationale Freudenfest der Deutschen würde die Erinnerung an den Holocaust auslöschen und die israelfeindliche Haltung der DDR in die Nahostpolitik eines vereinten Deutschland einfließen.

Die Klärung erfolgte im Zweiten Golfkrieg 1990/91, mit dem eine Staatenkoalition unter Führung der USA die Besetzung Kuweits durch den Irak rückgängig machte. Eine aktive Beteiligung der Bundeswehr am Militäreinsatz war unmöglich. Dem Krieg entziehen aber konnte Deutschland, das seit dem 3. Oktober 1990 staatlich vereint war, sich nicht. Es geriet unter Druck, als bekannt wurde, daß deutsche Firmen an den Irak Waffen sowie Chemikalien geliefert hatten, die zur Fertigung chemischer Kampfstoffe geeignet waren. Israel erhielt unter anderem eine finanzielle Soforthilfe von 250 Millionen D-Mark. Auf Druck der USA wurde 1991 die Lieferung von Dolphin-U-Booten vereinbart.

Die Erklärung Angela Merkels, die Sicherheit Israels gehöre zur deutschen Staatsräson, war die Transformation der Zivilreligion in die Politik. Merkel hatte der alten deutschen Neigung nachgegeben, ein Faktum nicht realpolitisch, sondern „als Gegenstand ästhetisch-gefühlsmäßigen Interesses“ (Carl Schmitt) zu erfassen. Sich nun im Zustand romantischer Ergriffenheit bedingungslos mit einem Anderen zu identifizieren bis hin zur Beteiligung an Kriegen liefe auf eine vollendete politische Selbstaufgabe hinaus.

Andererseits wird Israel als Außenposten der westlichen Welt wahrgenommen, zu der auch Deutschland zählt. Es wäre von seiner Niederlage mitbetroffen. Für die Hamas, die Hisbollah und den Iran ist der jüdische Staat ein metaphysischer Gegner, der verschwinden soll. Falls aber – rein theoretisch – deutsche Bomben auf Teheran fallen, werden auch deutsche Städte brennen. Dafür bürgt die schrankenlose Einwanderung, die ebenfalls als zivilreligiöse Übung, als Holocaust-Buße, propagiert und geduldet wurde. 

Bei Abstimmungen zu Nahost-Resolutionen in der UN-Vollversammlung hat Deutschland sich zuletzt der Stimme enthalten und den arabischen und den Ländern der Dritten Welt signalisiert, daß es sich die israelischen Positionen doch nicht bedingungslos zu eigen macht. Es ist das pragmatische Eingeständnis, daß sich aus historischer Schuld weder innen- noch außenpolitische Ewigkeitsklauseln und erst recht keine Staatsräson ableiten lassen. 

Ist eine Rückkehr zu den „normalen Beziehungen mit besonderem Charakter“ möglich? Sind deutsche Politiker nach Jahrzehnten der Entwöhnung noch zu strategischem Denken und Handeln befähigt? Am ehesten werden sie sich in die Strategien einordnen, die in Washington und im Nato-Hauptquartier konzipiert werden. Unabhängigen Köpfen aber obliegt es, nüchtern zu prüfen, was sich aus seiner authentischen Staatsräson für die Beziehungen zu Israel ergibt. Zivilreligiöse Romantik führt zum Wirklichkeitsverlust und ins Nichts.



Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist. In der JF 34/24 schrieb er zuletzt über die Geschichte der Überwachung in der BRD („Am öffentlichen Pranger“).