Sönke-Nissen-Koog, Nordfriesland, Sonntag, 6. August 1939. Am späten Nachmittag fahren am Tor zum entlegenen Hof Elisabethbay zwei schwedische Limousinen vor. Den Wagen entsteigen sieben englische Geschäftsleute und der schwedische Industrielle Birger Dahlerus. Der Schwede hat die Engländer in Hamburg abgeholt. Er will sie mit Hermann Göring ins Gespräch bringen, um einen drohenden Krieg zu verhindern.
Göring, der seit April 1938 als Nachfolger Hitlers gilt, und Dahlerus kennen sich schon länger. Der preußische Innenminister hatte dem Schweden bei Vermögensfragen geholfen, als dieser 1934 eine Deutsche, die verwitwete Elisabeth Nissen, ehelichte. Im Gegenzug setzte sich Dahlerus in Schweden für Görings Stiefsohn Thomas Kantzow ein. Dessen Mutter Carin von Kantzow, die der Jagdflieger des Ersten Weltkriegs 1923 in Stockholm geheiratet hatte, war 1931 gestorben. Göring habe ihm den Eindruck vermittelt, „daß er den Gedanken an einen Krieg aus dem einen oder anderen Grund mißbilligte“, berichtet Dahlerus in seinem 1948 erschienenen Erinnerungsbuch „Der letzte Versuch“.
Dahlerus hat geschäftlich oft in England zu tun. Bei einem Dinner mit Männern aus Industrie und Hochfinanz am 2. Juli im Londoner „Constitutional Club“ diskutiert er die Idee einer Zusammenkunft zwischen hochrangigen Engländern und Deutschen. Seine Gesprächspartner lassen durchblicken, daß England nach dem Münchner Abkommen zu keinen weiteren Zugeständnissen bereit sei. Doch die Runde beschließt, einen Versuch zu wagen. Umgehend fliegt Dahlerus nach Berlin. Schon am 6. Juli ist er in Carinhall, wo er Göring Verhandlungen in Schweden vorschlägt: dieser holt sich Hitlers Einverständnis – mit der Bedingung, das Treffen müsse geheim bleiben. Dahlerus wendet sich an Schwedens Premier Per Albin Hansson, doch der erklärt, „es wäre unklug von der schwedischen Regierung, in dieser Frage die Initiative zu ergreifen“.
Daraufhin bringt Dahlerus das ländliche Anwesen in Nordfriesland ins Gespräch, das seiner Frau Elisabeth gehört. Der Sönke-Nissen-Koog ist zwischen 1924 und 1926 durch Eindeichung entstanden. Finanziert hat die Landgewinnung der erste Mann von Dahlerus’ Frau, Sönke Nissen. Der Nordfriese war als Eisenbahningenieur nach Deutsch-Südwestafrika gegangen und durch Diamantfunde reich geworden. Deshalb tragen die Höfe des Sönke-Nissen-Koogs bis heute die Namen von Bahnstationen in Südwestafrika, dem heutigen Namibia.
Göring und seine Begleiter, darunter General Karl Bodenschatz, Verbindungsmann zu Hitler, reisen mit dem Sonderzug des Generalfeldmarschalls an. Dahlerus holt sie auf dem Bahnhof Bredstedt ab. Über dem Hof Elisabethbay flattert die schwedische Flagge im Sommerwind. Das geheime Treffen sei „sehr herzlich“ gewesen, beide Seiten hätten sich bemüht, „eine Atmosphäre zu schaffen, die einen aufrichtigen Meinungsaustausch ermöglichte“, so Dahlerus. Beim Lunch habe man mit einem „Skål“ auf den Frieden angestoßen. „Auch der kritischste Beobachter hätte den Schluß ziehen müssen, daß bei einer Fortsetzung der Verbindung unter solchen Formen wirklich Möglichkeiten für eine friedliche Lösung der Probleme beständen.“ Man habe sich geeinigt, beiden Regierungen ein Treffen bevollmächtigter Vertreter zu empfehlen, am besten in Schweden.
Doch dann verzögert sich alles. Die angedachte Regierungskonferenz, an der auf Vorschlag der Engländer auch Franzosen und Italiener teilnehmen sollen, kommt nicht zustande. Wichtige Entscheidungsträger sind im Urlaub. Der überraschende Nichtangriffspakt mit den Sowjets, den der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop in Moskau unterzeichnet, schafft neue Fakten. Damit sei die Gefahr eines Zweifrontenkriegs für Deutschland weggefallen, freut sich Göring bei einem weiteren Treffen mit Dahlerus am 24. August in Carinhall. Der Schwede läßt nicht locker. Am nächsten Tag fliegt er wieder nach London. Lord Halifax, der britische Außenminister, hat ihn um 18.30 Uhr ins Foreign Office bestellt. Vorher erfährt Dahlerus noch, daß Londons Botschafter in Berlin, Sir Nevile Henderson, gebeten worden ist, in die Reichskanzlei zu kommen, um direkt mit Hitler zu verhandeln.
Ende August 1939 erschweren Ultimaten weitere Verhandlungen
Lord Halifax ist hoffnungsvoll. Am Abend ruft Dahlerus Göring an, der gerade mit Hitler in der Reichskanzlei konferiert. Dort herrscht Erregung, denn die Engländer haben am Freitag ihren Beistandspakt mit Polen unterschrieben. Göring erklärt, „daß er einen Kriegsausbruch jeden Augenblick befürchte“. Dahlerus will alles versuchen, um die Katastrophe abzuwenden. Er schlägt vor, daß Halifax schnellstens einen persönlichen Brief an Göring schreibt, in dem er seinen Willen ausdrückt, mit Deutschland zur Verständigung zu kommen. Mit dem Brief fliegt der Schwede zurück nach Berlin. Nachdem Göring ihn gelesen hat, bekommt Dahlerus einen Termin bei Hitler, ein Mann mit einem „Mangel an innerem Gleichgewicht“, wie der Schwede nüchtern notiert.
Hitler gibt sich überzeugt, daß Deutschland den Krieg gewinnen werde. Doch er bittet Dahlerus, mit einem Sechs-Punkte-Plan erneut nach London zu fliegen. Deutschland bietet England ein Bündnis an, verspricht, Polens Grenzen zu garantieren, will sogar dem Britischen Empire bei einem feindlichen Angriff mit der Wehrmacht zu Hilfe kommen. Im Gegenzug sollen die Engländer dafür sorgen, daß Deutschland der Freistaat Danzig und einen Korridor erhält, für die Rechte der deutschen Minderheit in Polen eintreten und über die Rückgabe der deutschen Kolonien verhandeln. Letzteres und den Beistand der Wehrmacht lehnen die Briten ab, bei den anderen Punkten zeigen sie sich sogar offen, schlagen aber direkte Verhandlungen zwischen Polen und Deutschland vor.
Hitler erklärt sich einverstanden. Göring „stürzte auf mich zu, drückte meine Hand und sagte aufgeregt: Es bleibt Frieden. Der Friede ist gesichert“, schreibt Dahlerus. Doch es kommt anders. Am 29. August liest Hitler in Anwesenheit von Ribbentrop dem englischen Botschafter Henderson die deutsche Antwortnote vor, die die englische Position bestätigt. Am Ende wird allerdings ultimativ verlangt, daß ein hochrangiger polnischer Bevollmächtigter sich schon am nächsten Tag, am 30. August, zu Verhandlungen in Berlin einzufinden habe. Ribbentrop bekräftigt das deutsche Ultimatum bei einem Treffen mit Botschafter Henderson, der sich dabei „rüde und unhöflich“ behandelt fühlt. Mit dem englischen Diplomaten George Ogilvie-Forbes fährt Dahlerus zum polnischen Botschafter Józef Lipski, um ihm die deutsche Position vorzutragen. Der Schwede weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß Lipski aus Warschau per chiffriertem Telegramm angewiesen ist, sich auf keine Diskussionen mit der deutschen Reichsregierung einzulassen. Die Deutschen haben das Telegramm abgefangen, Göring liest es Dahlerus später vor. Lipski habe sich überzeugt gezeigt, „daß im Fall eines Krieges Unruhen in diesem Land ausbrechen und die polnischen Truppen erfolgreich gegen Berlin marschieren würden“, erinnert sich Dahlerus. Am Morgen des 1. September gibt Hitler den Befehl, Polen anzugreifen. Dahlerus’ Versuch, den Krieg zu verhindern, ist gescheitert.