© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/24 / 30. August 2024

Aus der Studierstube ins Freie treten
Der Philosoph Frank Lisson auf den Spuren der die deutsche Geisteswissenschaft prägenden Sehnsucht nach dem antiken Griechenland
Wulf D. Wagner

Wie liest man Frank Lisson? Seine Arbeiten sind trotz Buchtiteln, Kapiteleinteilung, Unterkapiteln nicht geordnet. Lange oder kurze Gedanken reihen sich ähnlich Aphorismen aneinander, die Argumente hüpfen, die Themen bauen nicht aufeinander auf, hier schweift unerwartet ein philosophischer Satz ins politisch Aktuelle, hier versinkt ein Gedanke in Melancholie, um ähnlich an anderer Stelle ganz kämpferisch wieder aufzutauchen. Lissons treue Leser haben sich an die gedankliche Unordnung, das Widersprüchliche nicht etwa nur gewöhnt, sondern sie wissen: Lissons Werk gehört sicherlich heute mit zu dem geistig Anregendsten. Dem spielend-unernsten oder politisch angepaßten Philosophen-Einerlei steht Lisson, seinen Vorbildern Nietzsche und Spengler folgend, ideenreich, provozierend und einsam entgegen, und Verlagen, die seine dicken und sicherlich sehr eigenen Bücher herausgeben, ist für ihren „Mut“ zu danken. 

So ist bei Manuscriptum als erster Teil einer Trilogie „Griechentum und deutscher Geist – Anatomie einer Sehnsucht“ erschienen, 653 Textseiten Wanderung durch die Geschichte der deutschen Beschäftigung mit Homer, Platon und Sokrates, Literaturgeschichte, Übersetzungsgeschichte, Kapitel wie „Rätselweiser Oedipus: Mythos und Drama“, „Ex oriente lux?“, „Griechentum versus Christentum“, „Vom Ideal klassischer Bildung“. 

Erinnerung an die geistige Weite früherer deutscher Bildungsheroen

Es ist nicht etwa nur ein Werk des Philosophen Lisson; tatsächlich liegt hier eine fast wissenschaftlich gehaltene Wissenschaftsgeschichte vor. Alles ist versehen mit den unglaublichsten Fußnoten seltenster Literatur selbst aus dem 18. Jahrhundert. Unmengen der eigentümlichsten und entlegesten Werke muß Lisson gründlich gelesen haben, und so sind viele Fußnoten mitlesenswert. Der Leser wird sich mühen müssen. Er wird sich fragen, warum er um noch eine weitere Homer-Übersetzung irgendeines früh verstorbenen Stubenhockers wissen muß – das Gastmahl des Platon wurde allein sechsmal in nur 53 Jahren ins Deutsche übersetzt. 

Aber kaum so gefragt, treten wir aus der Studierstube wieder ins freie, ins sonnige Griechenland, öffnet Lisson mit einem vermeintlich abschweifenden Gedanken unsere Sicht in ein Neues, und wir erkennen, daß in den Mühen all derer, die sich mit der griechischen Antike, mit den Feinheiten eines zu übersetzenden Gedankens befaßten, nicht nur ein „spezifisch deutsches Denken und Wollen“ ruht, sondern geradezu eine unstillbare Sehnsucht nach einer schöneren, wahreren, reineren Welt. Daß diese nicht kommt, daran erinnert Lisson sogleich mit einem nächsten Zitat aus dem frühen 19. Jahrhundert oder mit dem nächsten Schlenker zu den geistigen Verlusten und Lügen unseres Jetzt, um sich aber auch dort nicht aufzuhalten, sondern stärker noch als zuvor daran zu erinnern, daß es zur „tragischen Eigenart im ‘deutschen Wesen’“ gehörte, zu meinen, daß „aus der Gewißheit eines schlimmen Schicksals (…) geistige Schöpferkraft“ erwächst.

Lissons „Griechentum und deutscher Geist“ ist nicht wie seine philosophischen Werke aphoristisch aufgebaut, sondern kann als freie Art einer Rezeptionsgeschichte zu großen Denkern wie Johann Joachim Winckelmann, Johann Heinrich Voß, Friedrich Nietzsche, Friedrich Ast, Gottfried Bernhardy, August Boeckh und unzähliger anderer, heute kaum noch bekannter Männer gelesen werden. Es ist ein Werk, das aus den Lisson – aber letztlich Deutschland – quälenden geistigen Verlusten noch einmal mit einer riesigen Fülle an Zitaten daran erinnert, mit welchen Mühen und dann zu welcher Freiheit und Schönheit, geistiger Weite und Mannigfaltigkeit sich der Mensch Bildung erarbeitete – und wieder erarbeiten muß, damit jener kulturelle Reichtum, der sich wie ein Erinnerungsfaden durch Lissons Erinnerungsbuch zieht, nicht erlischt. So gelesen ist dieses trotz oder wegen seiner Unordnung ein erhebendes, trauriges wie auch kämpferisches Buch, und auf den zweiten Band – den zu Rom und uns Deutschen – wird man, am Ende von „Griechentum“ angekommen, voll Ungeduld warten.


Frank Lisson: Griechentum und deutscher Geist. Anatomie einer Sehnsucht. Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2023, gebunden, 683 Seiten, 84 Euro