Jetzt geht es also auf einmal doch! Jahrelang hatten Korrespondenten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die ihr Wissen direkt von Flüchtlingshilfe-Organisationen, Seenotrettern und Ausländerräten bezogen, ihr Publikum darüber aufgeklärt, die Rückführung selbst schwerster Straftäter und Gefährder nach Afghanistan widerspreche dem Grundgesetz, dem Unionsrecht, dem Völkerrecht sowie der Genfer Flüchtlingskonvention. Ist hingegen wenige Tage vor zwei Landtagswahlen und nach einer islamistischen Anschlagsserie mit einem katastrophalen Wahlergebnis für die Ampelkoalition zu rechnen, erweist sich das Recht auf einmal auch als vernünftig auslegbar.
Das Asylrecht des Grundgesetzes war nie als subjektives oder gar klagbares Recht des einzelnen gedacht, sondern bildete vor dem Hintergrund der Verfolgung von Dissidenten im Ostblock ein Bekenntnis zum völkerrechtlichen Asylrecht, also dem Recht von Staaten, nach eigenem Gutdünken fremden Staatsbürgern Asyl zu gewähren. Nichtsdestotrotz behandelte das Bundesverfassungsgericht das Asylrecht bald als klagbares Individualrecht, wodurch letztlich jedem Menschen auf der Erdoberfläche, der es irgendwie nach Deutschland geschafft hatte, der Anspruch auf Durchführung eines De-facto-Einwanderungsverfahrens in einen der großzügigsten Sozialstaaten der Welt eingeräumt wurde.
In der Folge bahnte sich seit den 1980er Jahren eine Asylkatastrophe an. Dem Erstarken der „Republikaner“ setzten CDU/CSU, FDP und SPD 1993 den „Asylkompromiß“ entgegen. Das Grundgesetz wurde geändert, im neuen Asylartikel 16a wurde klargestellt, daß Personen, die auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen, um hier Asyl zu beantragen (und die also mehrere sichere Drittstaaten durchquert haben müssen), nicht asylberechtigt sind. Entsprechend sind solche Asylbewerber gemäß Paragraph 18 Asylgesetz bereits an der Grenze zurückzuweisen.
Dies hätte eigentlich bereits das Ende der Asyl- und Abschiebeverhinderungsindustrie sein müssen, die bis heute – vermittelt durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – den rechtlichen Diskurs über das Ausländer- und Asylrecht dominiert. Der bundesdeutsche „Asylkompromiß“ wurde jedoch bald durch die Europäisierung des Regimes an den EU-Binnengrenzen (Schengen-System) und die unionsrechtliche Überlagerung des Asylsystems (Dublin-III-Richtlinie; Qualifikationsrichtlinie) faktisch gegenstandslos. Das Verbot systematischer Grenzkontrollen machte eine Zurückweisung an der Grenze unmöglich; obwohl die Dublin-III-Richtlinie normalerweise die Asylverfahrenszuständigkeit des Ersteinreisestaats vorsah, unterstützten typische Ersteinreisestaaten wie Italien und Griechenland die Weiterreise von Asylanten nach Deutschland. Deren Rückführung wurde teilweise von deutschen Verwaltungsgerichten wegen menschenunwürdiger Zustände in mediterranen Auffanglagern abgelehnt, teils auch von den betroffenen Staaten selber. Als Ungarn hingegen 2015 auf die Durchführung des Unionsrechts bestand und vornehmlich syrische Asylbewerber an der Weiterreise nach Deutschland hindern wollte, wurde es ausgerechnet von deutscher Seite der Verletzung europäischer „Werte“ geziehen. Deutschland erklärte sich unter Abkehr vom geltenden Recht zur unbeschränkten Aufnahme (vermeintlicher) syrischer Flüchtlinge bereit („Wir schaffen das“).
In den Jahren danach wurden verschiedene rechtliche Konstruktionen (so z.B. das „Selbsteintrittsrecht“ Deutschlands in fremde Asylverfahren) zur Rechtfertigung des Vorgehens der Bundesregierung propagiert, wobei einigermaßen offensichtlich war, daß nicht die „Grenzöffnung“ rechtlichen Vorgaben geschuldet war, sondern das faktische Handeln von Bundeskanzlerin Merkel, das Gegenstand einer euphorisierten Massenhysterie der deutschen Medien
elite gewesen war, ex post juristisch geadelt werden sollte. Erst ab 2018 begann sich die heute herrschende Meinung durchzusetzen, die – ohne klaren Anhalt in der Dublin-III-Richtlinie – behauptet, an Binnengrenzen sei jeder Asylbewerber zunächst einmal einzulassen, damit der asylzuständige Staat bestimmt werden könne. (Warum zwecks dieser Feststellung jemand zum Beispiel von Österreich nach Deutschland einreisen können muß, bleibt unerfindlich). Der Europäische Gerichtshof hat sie sich 2019 zu eigen gemacht und dies 2023 dann nochmals bestätigt.
Könnte man syrischen wie afghanischen Asylbewerbern selektiv die Einreise verweigern? Ja, wenn man – richtigerweise – die Ansicht teilt, daß Artikel 16a Abs. 2 Grundgesetz und Paragraph 18 Asylgesetz die Abweisung von auf dem Landweg anreisenden Asylbewerbern nicht nur erlauben, sondern gebieten. Dies widerspricht nach richtiger Ansicht auch nicht der Dublin-III-VO, da es das Ersteinreisestaatsprinzip umsetzen hilft, wenn Asylbewerber nicht in Eigenregie umherreisen können (anders aber der EuGH!). Könnte und sollte man das Grundgesetz ändern und klarstellen, daß das Asylrecht eine reine Staatszielbestimmung ist (und kein subjektives Recht!), die nach Maßgabe der Gesetze umgesetzt wird? Unbedingt! Denn dadurch würde die ursprüngliche Intention der Verfassungsväter gegen die leichtfertige Umdeutung des GG durch das BVerfG gerade in Schutz genommen. Dem Unionsrecht sollte dies ebenfalls nicht widersprechen, da dieses hauptsächlich Fristen und Zuständigkeiten regelt, wobei das materielle Asylrecht weithin Sache der Mitgliedstaaten bleibt.
Gemäß Artikel 72 des EU-Arbeitsweisevertrages berührt die Vereinheitlichung asyl- und ausländerrechtlicher Bestimmungen nicht „die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“. Daher endet der Gehorsam gegenüber dem EuGH, wo die innere Ordnung eines Mitgliedsstaats infolge der Asylpolitik zu zerbrechen droht. A country is the people in it: die Berechtigung zur Letztentscheidung über die Zusammensetzung der Bevölkerung ist und bleibt als Ausdruck der idée directrice des modernen Völkerrechts, nämlich des Selbstbestimmungsrechts der Völker, nationalstaatliche Kernzuständigkeit.