© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/24 / 06. September 2024

„Diese Proteste nützen der AfD“
Interview: Nach dem historischen Doppelsieg der Alternative in Sachsen und Thüringen rüstet das Land nun zur „Gegenwehr“ – doch die Demonstrationen und Anti-AfD-Koalitionen werden genau das Gegenteil bewirken, sagt der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt
Moritz Schwarz

Herr Professor Patzelt, die AfD ist Sieger in Sachsen und Thüringen. „Beginnt (nun) der Faschismus“, wie der „Spiegel“ vor der Wahl auf dem Titel verkündet hat?

Werner J. Patzelt: Das ist das Horrorszenario, das Linke und Grüne gern verbreiten. Doch selbst wenn die AfD an die Macht käme, änderte sich nichts daran, daß die deutschen Länder nur begrenzte Kompetenzen haben. Außerdem gilt weiterhin das Rechtsstaatsprinzip: Sollte eine AfD-Regierung rechtswidrig handeln, dann gibt es, wie es der Legende nach beim Alten Fritz hieß, ja „noch Richter in Berlin“ – heute natürlich in Karlsruhe.

Käme es bei einer AfD-Regierung zum „Bundeszwang“ gegen das betreffende Bundesland? 

Patzelt: Lassen Sie mich ironisch beginnen: Vielleicht verkündete der Bundespräsident noch, das Ergebnis sei unverzeihlich, und die Wahl müsse ohnehin rückgängig gemacht werden! Aber im Ernst: Daß der Bund eine Landesregierung einfach entmachtet und an ihrer statt eigene Kommissare einsetzt, wie es der in Artikel 37 des Grundgesetzes verankerte „Bundeszwang“ vorsieht – und übrigens 1923 in Sachsen und Thüringen tatsächlich geschah –, ist sehr unwahrscheinlich. Dazu müßte in einem Bundesland schon merklich auf den Umsturz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hingearbeitet werden. Die solchen Horrorvisionen zugrunde liegende Vorstellung, die AfD bestünde vor allem aus Faschisten und Nazis, scheint mir ohnehin mehr Hysterie als Einsicht ins Reale zu sein. Gewiß haben in der AfD seit ihren Anfängen mindestens zwei Richtungen miteinander gerungen, von denen sich stets die radikalere durchgesetzt hat. Es ist daher schon zu verstehen, daß sich viele Leute ob einer möglichen Regierungsmacht der AfD sorgen. Doch es ist oft eine aufgesetzte, politisch funktionalisierte Hysterie, welche die AfD von Beginn an begleitet, und in die sich so viele Leute immer mehr hineingesteigert haben – und zwar bis zur fixen Idee, Anfang des Jahres habe eine zweite „Wannseekonferenz“ stattgefunden. Tatsächlich wäre unserer Demokratie weit besser gedient, würde man auf die AfD nicht phobisch reagieren, sondern sich im politischen Nahkampf mit ihr auf Podien aller Art argumentierend auseinandersetzen.

Folgen nun wochen- wenn nicht monatelang Demonstrationen im ganzen Land, oder sind diese in einigen Tagen nur noch eine Randnotiz?

Patzelt: Solche Demonstrationen werden bis zur Wahl in Brandenburg und wohl auch darüber hinaus anhalten, vielleicht uns gar bis zur Bundestagswahl begleiten. Im Grunde sind solche symbolischen Akte auch das Einzige, was AfD-Gegnern an aktiver „Gegenwehr“ noch bleibt. Alles Etikettieren der AfD als „gesichert rechtsextrem“ etc. hat den Zulauf zu ihr ja nicht gestoppt. Und das Einzige, was einen solchen Stopp bewirken könnte, war bis vor kurzem tabuisiert: nämlich einzusehen, daß unsere Migrationspolitik – lange geführt von Frau Merkel und der CDU, doch vorangetrieben von Grünen und SPD – katastrophale Folgen zeitigt, und daß alle diesbezüglich üblen Vorahnungen – öffentlich jahrelang fast nur von AfD-Anhängern geäußert – inzwischen wahr geworden, wenn nicht übertroffen worden sind. 

Eben, kommt es folglich wegen der AfD-Wahlsiege nun doch zu der oft versprochenen, bisher aber nie gehaltenen Wende in der Einwanderungspolitik?

Patzelt: Es ist nicht auszuschließen, daß CDU und SPD und vielleicht sogar manche Grünen nun begreifen, daß die unbegrenzte, selbstermächtigte Zuwanderung nach Deutschland zur Mutter aller gegenwärtigen innenpolitischen Probleme geworden ist. Falls aber entsprechende Einsicht und wirkungsvolle Politikkorrekturen ausbleiben, wird weiterhin kein Kraut gegen den Machtaufstieg der AfD gewachsen sein. Dann bleibt es bei Demonstrationen „gegen rechts“ und „Rock gegen rechts“ – was alles aber nur Ausdruck politischer Hilflosigkeit ist.

Allerdings haben die Großdemos im Winter doch tatsächlich einen Einbruch der AfD in den Umfragen, immerhin um einige Prozent, bewirkt.

Patzelt: Das glauben manche gerne. Doch folgenreicher war die zeitgleiche Gründung des Bündnisses um Sahra Wagenknecht, der dann noch bei der Europawahl ein Reinfall mit den AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron folgte. Die AfD hat offenbar immer noch nicht akzeptiert, daß Kandidaten und Positionen vor allem beim Wähler gut ankommen müssen – und nicht allein bei der Parteibasis. Also dürfte der Anteil der Anti-Rechts-Demonstrationen am relativen Einbruch der AfD eher gering gewesen sein. In gewisser Weise nützen solche Proteste der AfD sogar.

Wie denn das?

Patzelt: Solche Demonstrationen gleichen antiken oder mittelalterlichen Bittprozessionen, bei denen man höhere Mächte um Hilfe anrief, weil man die wirklichen Ursachen von Unwettern, Schädlingsbefall oder Krankheiten nicht kannte. Also konnte man gegen die eigentlichen Gründe von Übeln auch nichts tun, sondern marschierte aufs Geratewohl. Ähnlich funktionieren heute viele Anti-AfD-Proteste. Deren regelrecht kultische Beschwörungen beseitigen aber nicht die Ursachen des Aufkommens der AfD, sondern lenken von einer sachlichen Ursachenanalyse, der dann wirklich zielführende Maßnahmen folgen könnten, nachgerade ab. Auf diese Weise führen Anti-AfD-Rituale gerade nicht zu dem, was sie eigentlich bewirken wollen, nämlich daß die Kraftquellen der AfD versiegen.

Zum Beispiel? 

Patzelt: Neben dem Migrationsdruck ist das etwa die Anmaßung eines staatlichen „Verantwortungsimperialismus“, wie er in Politik und Medien herrscht. Also die Vorstellung, jedes Problem sei staatlich zu lösen. Doch wie jeder Imperialismus ist auch dieser zur Überdehnung staatlicher Möglichkeiten und somit zum Scheitern verurteilt. Erneut folgt auf Politikillusionen die Politikfrustration: Enttäuschung und Empörung stellen sich ein, wenn glaubhaft gemachte Erwartungen sich nicht erfüllen, die Probleme aber bleiben, gar schlimmer werden. Das schwächt dann das Vertrauen vieler Bürger in die Leistungsfähigkeit des Staates und wird zum Kraftquell für eine Partei, die eine Alternative verspricht – und von ihren Gegnern auch noch davor bewahrt wird, ihre eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen zu müssen. 

Heißt, die Frage nach den Ursachen für den Erfolg der AfD greift zu kurz, eigentlich müßte die Frage lauten, ...

Patzelt: ... was sind die Ursachen für die Krise unserer Demokratie? Genau!

Dann ist die AfD also nicht, wie gemeinhin dargestellt, die Krise unserer Demokratie, sondern nur deren Folge? 

Patzelt: Die AfD ist zunächst einmal ein Symptom der schwärenden Probleme unseres Landes, zu denen gehört, daß etliche Politiken inzwischen ihren „Grenznutzen“ erreicht haben: also auch bei noch mehr Investitionen immer weniger „Rendite“ einbringen. So werden etwa die Ukraine-, Klimaschutz- oder Migrationspolitik von immer mehr Bürgern als weniger nutzbringend, denn vielmehr belastend empfunden. Besonders brisant wird das, wenn zugleich die Lebenshaltungskosten steigen, die sozialen Sicherungssysteme an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangen und sowohl die öffentliche Infrastruktur als auch die innere Sicherheit verkommen, weil zum Gegensteuern nötiges Geld für viel weniger nutzbringende Politiken ausgegeben wird.

Das klingt einleuchtend und nicht schwer zu verstehen. Warum begreift die etablierte Politik das also nicht?

Patzelt: Sie mag es wohl begreifen, ist aber zur Gefangenen ihrer Eigendynamik geworden. Nehmen Sie die Zuwanderungspolitik: Obwohl es sich bei ihr um eine gigantische Umgestaltung unserer Gesellschaft handelt, sind ihre Ziele und Mittel nie entspannt und ergebnisoffen diskutiert worden. Die üblen Folgen dessen bekommen nun auch reformwillige Politiker zu spüren. Das führt uns zur nächsten Krisenursache, nämlich unsere Debattenkultur. Die wird von immer mehr Bürgern nicht länger als freiheitlich empfunden, sondern – insbesondere seit Corona-Zeiten – mehr und mehr als eine Tyrannei der medialen Mehrheit. Eine oft ganz unplausible Ausgrenzungslust hinsichtlich sich abweichend Äußernder rundet dieses niederschmetternde Bild ab. In ihm zeigt sich unsere Demokratie als viel weniger freiheitlich, als sie tatsächlich verfaßt ist, und außerdem als weniger freiheitlich, als sie viele Leute noch vor zehn oder zwanzig Jahren selbst erlebt haben. Im übrigen sind die repressiven Züge unserer Debattenkultur nicht nur für die unterdrückte Seite frustrierend, sondern auch für jene, die solche Repression bewerkstelligen. Die merken ja auch, daß ihre Gegner nicht verschwinden, sondern sogar stärker werden. Wenn man aber gleich beiderseits an der praktizierten Demokratie verzweifelt und ihr innerlich kündigt, dann ist erst recht nichts gewonnen. Besser wäre es von jeher gewesen, sich vor großem Publikum sachlich zu streiten.

Gilt, was Sie für den außerparlamentarischen Bereich beschreiben, nicht ebenso für den parlamentarischen?

Patzelt: Ja. Und das wird sich fortsetzen in jenen Anti-AfD-Allparteienregierungen oder Anti-AfD-Koalitionen, auf die nun alles zuzulaufen scheint. Die Folge wird auch hier sein, daß von der AfD angesprochene, von den anderen Parteien dann aber pflichtschuldigst in Abrede gestellte Probleme nicht gelöst werden. Und einmal mehr wird das die AfD stärken – falls die sich nicht, wie es freilich ihre Tradition ist, durch hausgemachte Skandale, demagogische Reden, Spitzenkandidaten ohne Sinn fürs Politische oder die Demontierung realpolitisch gesinnter Politiker selbst schädigt. Um wieviel klüger wäre es, sich durch den Verzicht auf abschreckende Parolen, auf nicht durchhaltbare Positionen oder auf politisch leichtfertige Personen auf den Weg zu einer möglichen Kooperation mit der Union machen!

Auf die sich die CDU doch nie und nimmer einlassen wird.

Patzelt: Mag sein. Aber das wird, wenn die CDU stimmenträchtigte AfD-Positionen nicht wieder selbst besetzt, irgendwann zu AfD-Regierungen führen. Was aber will man dann tun? Zum Bundeszwang greifen? Es auf eine Staatskrise ankommen lassen? Besser wäre, Einsicht darin zu haben, daß es – falls man eine funktionierende Demokratie nicht zerstören will – schlicht unmöglich ist, die Bürgerschaft daran zu hindern, eine bestimmte Partei in Machtpositionen zu wählen, wenn das eine Mehrheit so will. Also besteht jener Umgang mit der AfD, welcher am besten mit den Prinzipien pluralistischer Demokratie vereinbar ist, genau darin, sie – wie zuvor schon die Grünen und die Linke – in unser Staats- und Parteiensystem zu integrieren.

Oder die CDU regiert nun in Sachsen und Thüringen überraschend erfolgreich mit dem BSW und gräbt damit der AfD das Wasser ab. Oder ist das tatsächlich so ausgeschlossen, wie die AfD gern behauptet?

Patzelt: Bündnisse auf Landesebene zwischen Union und BSW würden bei der Bundestagswahl zu Stimmverlusten für die Union führen. Viele nicht-linke Wähler würden nämlich nicht der Milchmädchenrechnung glauben, eine sozialpolitisch linke und migrationspolitische rechte Partei wäre im Durchschnitt eine Partei der Mitte – und darin mit der Union gut kompatibel. Und was realpolitisch mit dem BSW möglich wäre, ist ohnehin noch ganz unklar. 

Was glauben Sie, wo genau sich das BSW in unserem Parteiensystem schließlich positionieren wird? 

Patzelt: Das läßt sich noch nicht sagen, weil wir zu wenig über das Innere des BSW und die dortigen Spannungen wissen. Klar ist nur, daß auf Bundesebene BSW und Union eine stimmige Migrationspolitik machen könnten, von der nach so vielen Jahren der Problemverschleppung beide Parteien profitieren würden. Ob auch zum Nachteil der AfD, steht noch in den Sternen. 

Wird sich das BSW überhaupt halten oder wie schon diverse DVU-Fraktionen, die Stattpartei, die Schill-Partei oder die Piraten rasch wieder verschwinden?

Patzelt: Auch das läßt sich noch nicht absehen. Das BSW ist für deutsche Verhältnisse nämlich eine Partei neuen Typs. Es ist – anders als die einst auch neuen Parteien Grüne und AfD – eine Partei ohne Unterbau, die ihren Mitgliederzugang strikt von oben her kontrolliert. Und zwar aus guten Gründen, wie das Beispiel der AfD zeigt. Insgesamt könnte das BSW der Vorreiter einer Entwicklung auch in Deutschland hin zu Parteien sein, die sich zeitweise um charismatische oder von den Medien gehypte Führer bilden. Wir kennen das etwa von Emmanuel Macron oder Geert Wilders. Allerdings verheißt eine solche Entwicklung nichts Gutes für eine repräsentative Demokratie, für die bloß dünne, subjektivistisch gefärbte, vor allem medial aufrechterhaltene und aus allen diesen Gründen rasch wandelbare Vernetzungen zwischen Volk und Politikerschaft Gift sind.

Bleibt die Frage, ob der Ausgang der Landtagswahlen nun zum Zerbrechen der Ampel in Berlin führt, wie einige schon seit Monaten mutmaßen.

Patzelt: Das Ampel-Ende kommt nur, wenn einer der Partner die Chance sieht, nach Neuwahlen nicht schlechter dazustehen als zuvor. Danach aber sieht es für keine Ampelpartei aus. Bei baldigen Neuwahlen würden viele ihrer Abgeordneten ihre Mandate früher als andernfalls verlieren; und warum sollten sie das wollen? Manche hoffen zwar, es werde die FDP gleichsam rechtzeitig abspringen, wie sie das schon 1982 getan hat. Doch damals wußte sie, an wessen Seite sie ohne Absturzgefahr springen konnte. Diesmal dagegen wäre es ein Sprung ins Nichts.



Prof. Dr. Werner J. Patzelt: Der langjährige Dresdner Politikwissenschaftler ist Forschungsdirektor des ungarischen Matthias Corvinus Collegium in Brüssel. Von 1991 bis 2019 hatte er den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden inne. Geboren wurde er 1953 in Passau. 

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