Für Schönfärber und Realitätsverweigerer boten die beiden Landtagswahlen am vergangenen Sonntag wieder ein reichhaltiges Betätigungsfeld. Angesichts eines „blauen Bebens“ und der Premierenerfolge für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wußten sich die Wahlverlierer mit noch so kleinen Erfolgsmeldungen zu behelfen. Etwa, daß es die Kanzlerpartei SPD sowohl in ihrem Gründungsland Thüringen als auch in Sachsen über die Fünfprozenthürde schaffte. „Insofern steckt für meine Partei auch die Botschaft drin: Kämpfen lohnt sich. Wir werden gebraucht“, meinte Generalsekretär Kevin Kühnert allen Ernstes.
Und Grünen-Chefin Ricarda Lang behauptete unter Ausblendung sämtlicher Nachwahlbefragungen, sie glaube nicht, daß das Thema Migrationspolitik „die Menschen hier am meisten umgetrieben hat.“ Sieben Abgeordnete sind ihrer Partei immerhin im Dresdner Landtag verblieben, in Erfurt flogen die an der Landesregierung Beteiligten heraus.
Sein Ziel, die AfD mit Björn Höcke auf Platz 1 zu verhindern, hat auch Thüringens CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt verfehlt. Aber: Man selbst sei „stärkste Kraft in der politischen Mitte“ geworden. Was angesichts von 1,1 Prozent für die FDP eine wahrlich beachtliche Leistung ist. Voigt, der im Schatten der Brandmauer um die erstplazierte AfD Ministerpräsident werden möchte, stehen nun herausfordernde Sondierungen mit SPD und BSW bevor – angesichts eines dann wahrscheinlichen Patts von 44 zu 44 Sitzen (gegenüber AfD und Linkspartei). Unterdessen sprach sich Voigts frisch gewählte Parteifreundin Martina Schweinsburg für Sondierungsgespräche mit der AfD aus. „Über 30 Prozent der Thüringer haben AfD gewählt. Und das ist ein Respekt vor dem Wähler, mit denen, die sie gewählt haben, auch zu reden“, sagte die frühere Landrätin von Greiz. In Verhandlungen mit der AfD ließe sich die Partei entzaubern, vermutet die direktgewählte Christdemokratin. Insider berichten, mit dieser Ansicht stehe sie nicht allein in der Partei.
Auch in Sachsen, wo die Union unter Ministerpräsident Michael Kretschmer knapp vor der AfD auf Platz 1 landete, soll ein nicht geringer Anteil in seiner Fraktion Gesprächen mit der AfD gegenüber offen stehen. Kretschmer lehnt dies ab, auch er wird wohl zunächst mit BSW und SPD verhandeln.
Ein Debakel erlebte vor allem die FDP. Unnachahmlich brachte Parteivize Wolfgang Kubicki via X die Sache auf den Punkt: „Das Wahlergebnis zeigt: Die Ampel hat ihre Legitimation verloren“, schrieb er. Verweigere „ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft ihr in dieser Art und Weise die Zustimmung, muß das Folgen haben“. Welche das sein könnten, zeigte die Initiative „Weckruf-Freiheit FDP“, die bereits die (gescheiterte) Mitgliederbefragung zum Ausstieg der Liberalen aus der Ampel auf den Weg gebracht hatte. Das vor allem von Kommunalpolitikern getragene Projekt wandte sich noch am Wahlabend an den Parteivorsitzenden Christian Lindner: „Wir respektieren und achten Ihren Einsatz für die Rückkehr der FDP in den Bundestag. Wenn Sie nun aber nicht erkennen, daß Sie uns mit einem Fortführen dieses Trümmerkurses wieder hinausführen, bitten wir Sie zu gehen.“
Hart auf den Boden der Tatsachen schlugen auch diejenigen Formationen auf, die angetreten waren, die Lücke zwischen CDU einerseits und AfD andererseits zu füllen. Weder das Bündnis Deutschland noch die Werteunion (WU) konnten auch nur annähernd in den Bereich der Wahrnehmbarkeit vorrücken. Jeweils 0,3 Prozent erzielten die Parteien in Sachsen, 0,6 Prozent die WU und 0,5 Prozent das Bündnis in Thüringen. Deutlicher konnte der Unterschied zwischen einem – theoretischen – Wählerpotential und einer – realen – Wählerschaft nicht offenbar werden. WU-Chef Maaßen räumte ein, man sei „weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben“. Dies sei unter anderem auf „mangelnde organisatorische Reife und Professionalität der Partei sowie die unzureichende Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit zurückzuführen“.
Angesichts der Tatsache, daß die AfD erstmals bei einer Landtagswahl stärkste Kraft wurde, sagte der Bundesvorsitzende Tino Chrupalla, man habe „wieder ein Stück Geschichte geschrieben“. Auch die Co-Vorsitzende Alice Weidel sprach von einem „historischen Ergebnis“, aus dem klar der Regierungsanspruch der AfD folge. Es sei „auf Dauer nicht zu ignorieren“, daß die Wähler dies wünschten. Auch Thüringens Co-Landesvorsitzender Stefan Möller betonte, es sei Brauch, daß der stärksten Kraft die Regierungsbildung zustehe, auch wenn es schon früher Ausnahmen von dieser Regel gegeben habe. Wie CDU-Mann Voigt, der im Wahlkampf „AfD-light-Positionen“ vertreten habe, diese nun mit ausschließlich linken Partnern durchsetzen wolle, sei ihm ein Rätsel, so Möller. Durchaus selbstkritisch zeigte sich Sachsens Landeschef und Spitzenkandidat Jörg Urban. Man habe „klar für den Machtwechsel“ geworben und das Ziel, stärkste Kraft zu werden, trotz weiterer Zugewinne verfehlt. Auf eine Sperrminorität kam es ihm dagegen nicht an. Die AfD habe genug Mandate, um aus eigener Kraft Untersuchungsausschüsse einzusetzen, davon werde man bald Gebrauch machen.
Grafiken zu den Wahlen: siehe PDF Ausgabe
Fotos: Grünen-Chefin Lang (l.) mit Parteifreunden in Sachsen: Migration kein Thema? , Thüringens SPD-Vorsitzender und Spitzenkandidat Maier: Immerhin über 5 Prozent