Das Wort Islamismus kommt ihm nicht über die Lippen. Nach dem islamistischen Terroranschlag in seiner Stadt gab Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach zahlreiche öffentliche Stellungnahmen ab. Er sprach von einem „Anschlag“ oder einem „Attentat“, wahlweise stellte er das Adjektiv „heimtückisch“ voran. Das Motiv hinter dem Verbrechen war dem SPD-Politiker keine Erwähnung wert.
Diese Weigerung, den politischen Islam als Gefahr zu erkennen, scheint in Solingen in den vergangenen Jahren an der Tagesordnung gewesen zu sein. Zwei Wochen ist es nun her, daß der eingewanderte syrische Islamist und Anhänger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS), Issa al Hassan, auf dem Fest zum 650jährigen Stadtjubiläum drei Menschen ermordete und weitere acht zum Teil schwer verletzte. Nach und nach gelangen immer mehr Details sowohl zur aktuellen Tat als auch zur Geschichte Solingens ans Licht, die eine irritierend naive Sicht auf den Islamismus offenbaren.
Was den Anschlag angeht, drängt sich etwa die Frage auf, welche Rolle die Moschee „Islamisches Zentrum Solingen e.V.“ gespielt hat. Die Moschee befindet sich lediglich 300 Meter entfernt von der Flüchtlingsunterkunft, in der der Attentäter al Hassan seit Anfang des Jahres in Solingen lebte. Von offizieller Seite gibt es bislang zwar keine Auskunft darüber, ob oder welche Moscheen er besuchte. Allerdings zitierte die Welt bereits zwei Tage nach der Tat aus einem Bericht der Polizei, in dem ein auf dem Stadtfest verletzter Zeuge zu Wort kommt. Demnach heißt es in dem Bericht wörtlich: „Von einem bei der Tat verletzten Zeugen wurde angegeben, daß man den unbekannten Tatverdächtigen ‘aus Solingen kenne’ und dieser auch Besucher einer örtlichen Moschee sei.“
Besuchte al Hassan noch am Abend des Anschlags die Moschee?
Für den al-Qaida-Aussteiger und Islamismusexperten Irfan Peci spricht eine ganze Reihe von Indizien dafür, daß es sich bei der „örtlichen Moschee“ um das Islamische Zentrum Solingen handelt. „In die anderen örtlichen Moscheen, die etwa von Ditib, Milli Görüs oder den türkischen Sufis betrieben werden, wäre ein Islamist wie al Hassan nie gegangen. Diese Moscheen sind für einen IS-Anhänger wie ihn viel zu liberal“, erklärt Peci der JUNGEN FREIHEIT. „Dagegen ist die Moschee des Islamischen Zentrums Solingen eine radikale Salafisten-Moschee, die noch dazu in unmittelbarer Nähe zu al Hassans Flüchtlingsunterkunft liegt.“
Zudem weist er auf das dreiteilige Bekennervideo hin, das kurz nach dem Anschlag auftauchte und in dem ein Mann, aller Wahrscheinlichkeit nach al Hassan, seine Treue zum „Islamischen Staat“ schwört. Im letzten Teil verkündet der Mann, daß er „in ein paar Momenten“ seine Tat ausführen werde. Aufgenommen wurde dieser Teil vor einem Parkhaus an der Goerdelerstraße/Ecke Florastraße im Stadtzentrum – unweit der Moschee des Islamischen Zentrums.
„Das Parkhaus, vor dem das Bekennervideo aufgenommen wurde, befindet sich zwischen al Hassans Flüchtlingsunterkunft und der Moschee“, führt der Islamismusexperte aus. „Der Ort des Anschlags, der Fronhof, befindet sich in entgegengesetzter Richtung. Al Hassan ist also nicht direkt von seiner Unterkunft zum Anschlagsort gegangen, sondern zuerst in die andere Richtung, in der die Moschee liegt, und hat dann unweit der Moschee das Bekennervideo aufgenommen. Für mich sieht das so aus, als wäre er vor dem Anschlag in der Moschee gewesen.“ Allerdings weist Peci darauf hin, daß es sich lediglich um eine Theorie handelt. Beweise habe er nicht.
Auch Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) gab in einer Sondersitzung des Innen- und Integrationsausschusses im Landtag an, den Behörden lägen keine Informationen zu Besuchen von al Hassan in der Moschee vor. Das Islamische Zentrum Solingen selbst betonte in einer Stellungnahme nach dem Anschlag, veröffentlicht auf Facebook: „Zudem wollen wir klarstellen, daß der Täter in unserer Moschee nicht bekannt ist.“ Der Vorsitzende des Vereins, Hidir Efetürk, sagte hingegen der Zeit, „es kann sein“, daß der Attentäter die Moschee aufgesucht hat. Auf eine Anfrage der jungen freiheit reagierte das Zentrum bis zum Redaktionsschluß nicht.
Für Peci zeigt der Umgang mit der Moschee ganz unabhängig von der möglichen Verbindung zu al Hassan, daß die Verantwortlichen in Solingen die Augen vor dem Islamismus verschließen. „Ob der Attentäter die Moschee nun besucht hat, wie ich glaube, oder nicht: Fest steht, daß es sich um eine radikale salafistische Moschee handelt“, macht er deutlich.
Als Beleg führt er die Predigten an, die die Moschee regelmäßig als Video auf ihrem Youtube-Kanal hochlädt. Besonders pikant: Nach dem Anschlag löschte die Gemeinde fast alle ihrer Videos oder schränkte ihre Sichtbarkeit für die Öffentlichkeit ein. „Es sieht ganz danach aus, als ob der Verein Angst davor hat, daß seine radikale Ideologie in der Öffentlichkeit bekannt wird“, vermutet Peci. Er hat die Videos vor der Löschung gesichert und inzwischen einen Beitrag dazu auf seinem eigenen YouTube-Kanal hochgeladen, in dem er zahlreiche radikale Passagen aus den Predigten zeigt.
„Der Imam bittet Allah in fast all seinen Predigten darum, den sogenannten Mudschaheddin zum Sieg zu verhelfen. Damit sind alle gemeint, die den Dschihad führen, also zum Beispiel al-Qaida oder der Islamische Staat“, schildert er. Darüber hinaus werde in den Predigten ganz offen die Scharia befürwortet und das Auspeitschen oder sogar die Steinigung von „Unzüchtigen“ gefordert. „Und trotzdem bewirbt die Stadt Solingen das Islamische Zentrum in einer offiziellen Stadtbroschüre und behauptet dort, der Verein bemühe sich um die Integration von Muslimen.“
Abgesehen von der Moschee gibt es Hinweise darauf, daß die islamistische Gesinnung des Attentäters schon deutlich vor seinem Verbrechen offenkundig war. So soll al Hassan in seiner Flüchtlingsunterkunft dafür bekannt gewesen sein, auf seinem Handy „islamistischen Content“ zu konsumieren. Das berichtet das Online-Portal „Nius“ und beruft sich auf Aussagen von Reinigungskräften und anderen Bewohnern der Unterkunft. Konkret habe er sich etwa Predigten und sogenannte Nashid-Gesänge auf seinem Handy angesehen. Dabei handelt es sich um islamistische Gesänge, in denen zum Heiligen Krieg gegen Ungläubige aufgerufen wird.
Dazu habe im März 2024 der Sicherheitsdienst einschreiten müssen, weil im Zimmer von Al Hassan eine schwarze IS-Flagge an der Wand angebracht worden sei. Ob die Leitung der Unterkunft Kenntnis von dem Vorfall hatte, ist unklar. Betrieben wird das Asylheim von der Stadt Solingen, die auf eine Anfrage der JF bis zum Redaktionsschluß nicht reagierte.
Ebenso offen ist, wer genau die Flagge anbrachte. Laut „Nius“ hatte der Attentäter drei syrische Mitbewohner, die von seiner islamistischen Einstellung mindestens gewußt haben müssen oder sie geteilt haben. Einer davon war am Samstag nach der Tat kurzzeitig von der Polizei festgenommen und befragt worden. Polizei und andere Sicherheitsbehörden machen bislang allerdings keine Angaben darüber, ob die Mitbewohner des Attentäters ebenfalls als Islamisten eingestuft werden.
Auch die Diakonie in Solingen, die für die sozialpädagogische Betreuung der Bewohner in al Hassans Flüchtlingsunterkunft zuständig ist, äußert sich „aus datenschutzrechtlichen Gründen“ nicht zu dieser Frage. Zum Attentäter selbst teilte der evangelische Sozialdienst mit, dieser habe „keines der freiwilligen sozialpädagogischen Angebote in Anspruch genommen“. Auch eine rechtliche Beratung – etwa mit Blick auf al Hassans fehlgeschlagene Abschiebung – bestreitet die Diakonie.
Aber nicht nur der Umgang mit der Moschee des Islamischen Zentrums oder die Verhältnisse in der Flüchtlingsunterkunft deuten darauf hin, daß der Kampf gegen den Islamismus für die Solinger Entscheidungsträger in der Vergangenheit kaum eine Rolle spielte. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren arbeitete eine ganze Reihe von Akteuren und Organisationen in Solingen daran, Warnungen vor Islamismus mit rechtsextremer Hetze und Rassismus gleichzusetzen.
Neben fast allen Parteien, allen voran Kurzbachs SPD, zählen dazu unter anderem dessen früherer Arbeitgeber, die Arbeiterwohlfahrt (AWO), das zivilgesellschaftliche Bündnis „Bunt gegen Braun“, dem der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Hans-Werner Bertl vorsteht, und die beiden großen Wohlfahrtsverbände der christlichen Kirchen, Diakonie und Caritas.
Exemplarisch für die breite Front gegen Warnungen vor dem politischen Islam steht eine Kundgebung von Ende August 2019, als der bekannte Islamismuskritiker Michael Stürzenberger in Solingen auftrat, der vor wenigen Monaten in Mannheim selbst Opfer eines islamistischen Attentats wurde und nur knapp überlebte. Damals rief „Bunt gegen Braun“ zum Protest gegen Stürzenberger auf, dem sich unter anderem Kurzbach, die AWO oder der Bund der Deutschen Katholischen Jugend Solingen anschlossen, dessen Vorsitzender Kurzbach von 1998 bis 2005 war.
Ferner gab der Solinger Oberbürgermeister gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus den Nachbarstädten Wuppertal und Remscheid, Andreas Mucke und Burkhard Mast-Weisz (beide SPD), „ein Statement für Toleranz und Zusammenhalt“ ab, wie es auf der Internetseite von „Bunt gegen Braun“ heißt. Und damit nicht genug: Fast alle Parteien in Solingen, die SPD, die CDU, die Grünen, die FDP, die Linkspartei und die Partei Bündnis für Solingen, unterzeichneten einen gemeinsamen überparteilichen Appell gegen Stürzenberger.
Dessen Kritik am politischen Islam setzten sie darin gleich mit „Islamhetze“ und „einem Kulturkampf, der von einer völkischen Ideologie getragen wird“. Ferner stuften sie Stürzenbergers Kundgebung als „Demokratiebedrohung“ ein, verurteilten „diese rechte Hetze“ und bekannten sich stattdessen „zu einer Demokratie der Vielfalt und der Toleranz“.
Die Stadt verschrieb sich ganz
dem „Kampf gegen Rechts“
Ein weiteres zentrales Beispiel für die sorglose Haltung gegenüber dem Islamismus stellt die sogenannte Solinger Mitte-Studie von 2021 dar. Die Untersuchung sollte Aufschluß über das Ausmaß der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ in Solingen geben und wurde etwa vom nordrhein-westfälischen Kultusministerium mit 18.000 Euro gefördert. Zum Projektteam zählten unter anderem die Stadt Solingen und die Solinger Koordinierungs- und Fachstelle für das Bundesprogramm „Demokratie leben!“, über das die Stadt laut „Nius“ seit 2020 insgesamt 735.000 Euro erhalten hat. „Demokratie leben!“ wurde 2015 vom Bundesfamilienministerium ins Leben gerufen, unter anderem um zivilgesellschaftliches Engagement gegen Extremismus zu unterstützen. „Das schließt neben Rechtsextremismus auch islamistischen Extremismus und linken Extremismus mit ein“, betont das Ministerium auf der Internetseite des Programms.
Die Studie kam zum Ergebnis, daß „Fremden- und Ausländerfeindlichkeit“ in der Stadt „sehr häufig“ vorkämen und die Abwertung von Asylbewerbern sowie Muslimfeindlichkeit „häufig“. Zuvor waren an die Solinger Bürger etwa 10.000 Online-Fragebögen in vier Sprachen verteilt und Gruppendiskussionen durchgeführt worden.
Abgefragt hatten die Studienautoren diverse Formen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, etwa Fremdenfeindlichkeit im Allgemeinen, die Abwertung von Asylbewerbern oder Sinti und Roma, Antisemitismus, Rassismus oder Muslimfeindlichkeit. Nicht untersucht wurde hingegen, wie weit islamistische Denkmuster in der Stadt verbreitet sind.
Zum Projektteam hinter der Studie zählte außerdem das Förderprogramm „NRWeltoffen“, mit dem das Bundesland Nordrhein-Westfalen seine Kommunen seit 2017 in der „Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus und Rassismus“ finanziell unterstützt. Nach Solingen, wo das Programm von der Diakonie koordiniert wird, flossen in den vergangenen acht Jahren knapp 630.000 Euro. „NRWeltoffen“ richtete nach eigenen Angaben auf Basis der Studienergebnisse Fachgruppen für fünf Themenfelder in Solingen ein: Antiromaismus, Anti-Schwarzen Rassismus, Antisemitismus, Demokratiefeindlichkeit und Muslimenfeindlichkeit. Eine Fachgruppe für Islamismus wurde nicht eingerichtet.
Diese Ignoranz ist um so frappierender, als in Deutschland wohl kaum ein anderer Ort so viele einschlägige Erfahrungen mit dem gewaltbereiten Islam gesammelt hat. Nachdem sich 2011 der österreichische Islamist Mohamed Mahmoud in Solingen angesiedelt hatte, entwickelte sich die Stadt rasch zu einem islamistischen Hotspot. Mahmoud, der in Österreich wegen Bildung und Förderung einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden war und gerade seine Haftstrafe verbüßte hatte, baute in Solingen die salafistische Organisation „Millatu Ibrahim“ auf und fungierte in der gleichnahmigen Moschee als Imam. Dort scharte der Sohn eines Ägypters, der laut eigener Aussage schon als Teenager ein Terrorcamp von al-Qaida im Irak besucht hatte, eine ganze Reihe prominenter deutscher Islamisten um sich. Während „Millatu Ibrahim“ 2012 vom Bundesinnenministerium verboten wurde, kamen aus dem Kreis, einschließlich Mahmoud selbst, in den Jahren darauf in Syrien im Kampf für den Islamischen Staat ums Leben.
Zu Mahmouds Anhängern zählten neben dem Berliner Rapper Denis Cuspert alias Deso Dogg oder Badr A., der später in der Propagandabteilung des IS gearbeitet haben und Hinrichtungsvideos produziert haben soll, auch zwei gebürtige Solinger: Robert Baum und Christian Emde, der sich 2014 als eines der führenden deutschsprachigen Mitglieder des Islamischen Staats im Irak vom Publizisten Jürgen Todenhöfer interviewen ließ. Beide Solinger waren vom Christentum zum Islam konvertiert und 2011 in Großbritannien zu einer Haftstrafe verurteilt worden, weil sie bei der Einreise einen Laptop mit Bombenbau-Anleitungen von al-Qaida mitgeführt hatten. Baum starb mutmaßlich 2014 bei einem Selbstmordattentat für den Islamischen Staat in Syrien. Emde soll 2018 bei einem Drohnenangriff in Syrien sein Leben verloren haben.
Der Islamismus war in Solingen also schon lange vor dem Anschlag auf das Stadtfest eine für jeden sichtbare Gefahr. Zumindest für jeden, der nicht die Augen davor verschloß.
Grafik: So bewegte sich der Solinger Attentäter in der Stadt:
Das Bekennervideo nahm Issa al Hassan am 23. August in der Nähe einer radikalen Moschee auf – wenige Minuten später stach er am Fronhof auf Passanten ein
Fotos: Islamisches Zentrum Solingen: Gebete für Gotteskrieger und Befürwortung der Scharia, Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD)