© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/24 / 06. September 2024

Rätselraten über die Militärstärke von Belarus
Weißrußland: Moskau erinnert an taktische Atomwaffen in seinem befreundeten Nachbarland und geißelt weiter ukrainische „Provokationen“
Paul Leonhard

Es liest sich wie die Begründung einer Kriegserklärung: „Die ständigen ukrainischen Provokationen an der Grenze, der Einsatz von Drohnen, die Stationierung einer großen Zahl ukrainischer Soldaten, die Einschleusung von Terroristen nach Belarus, ihre Versorgung und Finanzierung, die totale Verminung des Grenzgebiets und andere feindselige Schritte des Kiewer Regimes haben Belarus gezwungen, seine Streitkräfte einzusetzen, um die Sicherheit des eigenen Territoriums und die seiner Bürger zu gewährleisten.“

Allerdings handelt es sich bei diesem Satz um keine diplomatische Note aus Minsk, sondern um eine Verlautbarung aus Moskau. In ungewöhnlich rüdem Ton antwortete Maria Sacharowa, Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, auf eine angeblich an Weißrußland gerichtete Erklärung Kiews. Wie auch westliche Medien berichteten, soll Kiew das Nachbarland gewarnt haben, unter dem Druck Rußlands „tragische Fehler“ zu begehen, und verlangt haben, daß die weißrussische Armee ihre „unfreundlichen Akte“ – gemeint sind offenbar Manöver nahe der Grenze zu Ukraine  – einstelle und die Truppen soweit ins Hinterland zurückziehe, daß der Abstand zur Grenze größer sei als die Reichweite der Minsker Raketensysteme.

Öl ins Feuer gießt derweil die Opposition in Minsk

Daß es eine entsprechende diplomatische Note gibt, dementiert Anatoli Glas, Sprecher des weißrussischen Außenministeriums. Es habe keinen Aufruf Kiews gegeben, die Truppen von der gemeinsamen Grenze abzuziehen, sondern lediglich „derartige Aufforderungen im Internet“. Allerdings wirft Glas gegenüber Radio Belarus Kiew all das vor, was Sacharowa aufgezählt hat: Kampfdrohnen über weißrussisches Gebiet fliegen zu lassen, Terroristen einzuschmuggeln und den Grenzbereich zu verminen. Deswegen ziehe man die Stationierung von mehr als 100.000 Soldaten an der Grenze „in Betracht“.

Ein Drittel seiner Armee habe er an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen, behauptet Weißrußlands Präsident Alexander Lukaschenko. Eine Größenordnung, die die weißrussische Opposition für nicht annährend realistisch hält. Lediglich bis zu 1.200 Soldaten seien zur Verstärkung eingetroffen. Von einer „beträchtlichen Anzahl an Personal, darunter Spezialkräfte, Waffen und Militärmaterial wie Panzer, Artillerie, Mehrfachraketenwerfer, Flugabwehrsysteme und technische Ausrüstung“ in der Region Gomel berichtet das ukrainische Außenministerium unter Verweis auf Geheimdienstquellen. Weißrussische Oppositionsquellen wissen lediglich von zwei bis drei Dutzend Panzern, maximal 35 gepanzerten Mannschaftstransportern sowie einigen Artilleriegeschützen in unmittelbarer Grenznähe. Truppenbewegungen gibt es nach Erkenntnissen des ukrainischen Grenzschutzes keine.

Kein Militärexperte traut mit Blick auf den Zustand der weißrussischen Wehrpfllichtigenarmee dieser einen wirksamen Angriff auf die Ukraine zu, maximal einen Fernbeschuß durch Raketenartillerie. Andererseits wäre Minsk als Teil des 2002 gegründeten Militärbündnisses CSTO, dem auch Kasachstan, Kirigistan, Tadschikistan angehören, verpflichtet, Rußland zu unterstützen, wenn dessen territoriale Integrität angegriffen wird.

Minsk erfülle mit der „Verstärkung der Verteidigung der Grenze zur neonazistischen Ukraine“ seine Verpflichtungen, „Schläge in den Rücken Rußlands zu verhindern“, sagt Sacharowa. Gleichzeitig verweist sie auf „moderne russische Verteidigungskomplexe und taktische Nuklearwaffen“, die auf weißrussischem Gebiet stationiert sind.

Öl ins Feuer gießt derweil die Opposition in Minsk: Diese warnt Präsident Lukaschenko davor, einen ukrainischen Einmarsch zu provozieren. Die hohe Truppenpräsenz an der Grenze könne „nach hinten losgehen“, so Franzischak Wjatschorka gegenüber Newsweek. Für den Minsker Ministeriumssprecher Glas sind die ganzen Desinformationen und gegenseitigen Anschuldigungen dagegen „vielleicht ein raffiniertes Spiel“, für das sich Kiew Beifall von der eigenen Bevölkerung und dem Westen erhoffe:: „Die Hauptsache bei einem solchen Spiel ist jedoch, daß sie sich nicht selbst überlisten.“   Kommentar Seite 2