Kurz vor den Landtagswahlen ließ eine Koryphäe vom Medienportal Correctiv via Twitter verlauten, der Westen solle „lieber über eine Trennung“ von der ehemaligen DDR nachdenken: „Die Tschechoslowakei hat es vorgemacht.“ Denn es könne nicht sein, daß die rückständigen Ostdeutschen, „die nur 1/6 der Gesamtbevölkerung stellen, mit der Westbindung das Erfolgsmodell der Bundesrepublik zerstören“. Nach scharfen Reaktionen löschte er den Tweet rasch wieder, doch ließ er sich nicht mehr zurückholen. Glücklicherweise, denn er ist buchenswert, weil er eine verbreitete Stimmung widergibt, die sich teils in Pöbeleien, teils in Insinuationen Luft verschafft.
Der Spiegel stellt zum Beispiel regelmäßig auf dem Cover die östlichen Bundesländer als hinterwäldlerisch und als irgendwie nicht zugehörig dar. Die „Ossis werden nie Demokraten“, schrieb Mathias Döpfner, der Chef des Axel-Springer-Konzerns, in einer seiner umnebelten nächtlichen Mails. Die in Dresden erscheinende Sächsische Zeitung plazierte am 10. August den Leitartikel eines (aus dem Westen zugezogenen) Feuilletonredakteurs auf der Titelseite, der mit einer verzerrenden Kritik an der Pegida-Bewegung begann und in den Satz einmündete. „Was unser Land braucht, ist ein eiserner Vorhang, vor dem sich die Mehrheit der demokratischen Zivilgesellschaft schart.“ Wobei nicht klar wurde, ob die Mehrheit sich mit dem Rücken oder mit dem Gesicht zur Wand aufstellt und ob der Feind von hinten oder von vorn anstürmt.
Solche Trennungsphantasien sind längst keine Einbahnstraße mehr. Die Bundesrepublik wird von vielen Bürgern als ein Staat wahrgenommen, der das Scheitern zu seinem Programm gemacht hat. Eine explodierende Gewaltkriminalität, der Niedergang der Wirtschaft, die Zerrüttung der Infrastruktur, die Verdummung der Schüler, die Abwanderung der Klugen und Talentierten ins Ausland, die von Analphabeten und religiösen Fanatikern ersetzt werden, die direkt ins Sozialsystem einwandern – diese Tendenzen haben ihre Wurzeln in Ideologien und Diskursen, die im westlichen Teil des Landes kreiert wurden. Da kann schon der Gedanke auftauchen, vom Osten aus einen Schnitt zu machen: Die Milliardentransfers, auf die der Westen verweist, könnten dann als deutsch-deutsche Kriegsfolgelastenbereinigung verrechnet werden. Im übrigen müßte ein fairer Trennungsbeschluß die Übernahme von Messermännern, Gruppenvergewaltigern, Genderprofessor:innen, vernagelten Extremismusforschern, Demokratiexperten und sonstigen Kollateralschäden von Wokeness und Multikulti durch den Weststaat mit einschließen.
Gewiß, die Pro-Kopf-Wertschöpfung liegt im Osten noch um ein Viertel unter der des Westens, doch es ist vorstellbar, daß mittelfristig eine West-Ost-Wanderung von Personen und von Betrieben stattfindet, die der zunehmenden Politisierung ihres Alltags und der erstickenden Bürokratie entgehen wollen. Nicht nur viele Ost-, auch Westdeutsche sehnen sich danach, von den herrschenden Politik- und Medienlemuren befreit zu werden.
Nun gut, das sind alles Wolkenschiebereien, aber solche Phantasien verweisen darauf, daß die Wiedervereinigung, die in Wahrheit ein Beitritt des Ostens zum Westen beziehungsweise seine Übernahme war, politisch und psychologisch weitgehend mißlungen ist. Der westdeutsche Teilstaat glaubte das Ganze zu sein und hat sich daran verhoben. Nun drohen beide Teile in den Abgrund zu stürzen.
Dazu eine Begebenheit aus der Kulturszene, welche die bundesdeutsche Überhebung gut illustriert. Ende 1991 nahm Jürgen Habermas an einer Veranstaltung der (Ost-)Akademie der Künste in Berlin teil. Bei dieser Gelegenheit übergab die Schriftstellerin Christa Wolf ihm ein Arbeitspapier mit Thesen für eine Vereinigung mit der Schwesterakademie im Westteil der Stadt. Darin war von einer zu überwindenden Anpassung der beiden deutschen Teilstaaten an ihre jeweiligen Vormächte die Rede. Diese Anpassung hätte sowohl in der DDR wie in der Bundesrepublik „eine intellektuelle und emotionale Befangenheit erzeugt“, die zu einer Entfremdung von der einst einheitlichen deutschen Kultur geführt hätten.
Wenige Tage später sandte Habermas an Christa Wolf einen geharnischten Brief, in dem er das Papier als „gut gemeinten, aber kurzschlüssigen Appell“ abkanzelte. Keineswegs hätten die Biographien im Westen sich unter „deformierenden Einschränkungen“ vollzogen, vielmehr sei die bundesdeutsche „Westorientierung (...) die Einübung in den aufrechten Gang“ gewesen. Keineswegs gehörten die zwei deutschen Nachkriegsgeschichten zum selben „Paar Schuhe“.
Die harsche Absage war um so bemerkenswerter, weil Wolf wie Habermas sich ausdrücklich zum linken und antifaschistischen Lager zählten, beide 1929 geboren waren und der sogenannten Flakhelfergeneration angehörten. Während die Ost-Schriftstellerin, die im Jahr zuvor im sogenannten „Literaturstreit“ als politisch naiv und ideologische Irrläuferin kritisiert worden war, sich zur Notwendigkeit der Selbstkorrektur bekannte, wies der West-Philosoph die Zumutung strikt zurück. Die DDR-Pop-Band Silly faßte damals die Konstellation in das Bild vom reichen Westbräutigam, der seine heruntergekommene Ost-Braut heimführt („Die Schlampe und der Held“) und sie an die Kandare nimmt: „Und wenn es ihr zu eng wird / im sündhaft teuren Kleid / sagt er: Sei still, und schäm Dich / für Deine Vergangenheit.“
Inzwischen ist der Lack der Westherrlichkeit fast gänzlich abgeplatzt. Günter Maschke hatte ihn bereits vor vierzig Jahren als falschen Flitter entlarvt. Seine Sätze über die intellektuelle Flakhelfer-Generation im Westen, die zur Zeit der Wiedervereinigung tonangebend war, sind nach wie vor klassisch: „Diese Generation, zu jung, um die Prügel zu verstehen, die sie empfing, wurde ein Opfer der Gemeinschaftskundewelt, der Care-Pakete, der amerikanischen Stipendien für ‘Demokratiewissenschaft’ (Politologie) und der Legende vom britischen Parlament. Die schöne neue Welt, die die Vertreter dieser Generation nach Blut und Dreck erschauen dürfen, wurde von der einen Fraktion von ihr später als realisiert wahrgenommen, von der anderen aggressiv eingefordert. (…) Die einen wollen die Nationvergessenheit und die Unterwerfung stabilisieren, die anderen wollen die Nationvergessenheit und die Unterwerfung verschärfen.“
Ketzerisch gefragt: Konnte es denn überhaupt anders kommen? Bei der Suche nach einer Antwort werden die strukturellen Parallelen zwischen der Bundesrepublik und der DDR deutlich, die – anders als Habermas meinte – durchaus existierten. Zu den ersten Schriftstellern, die nach Deutschland zurückkehrten, gehörte der Kommunist und einstige Expressionist Johannes R. Becher. Sein 1946 erschienener Band „Heimkehr“ enthält eine eindrucksvolle, tief empfundene Deutschland-Lyrik. „Meiner Heimat Schönheit“, „Es war ein stilles Land“, „Du heilig-schönes Land“, lauten einiges charakteristische Überschriften. Einen Höhepunkt des Bandes bildet die Strophe: „Deutschland meine Trauer, Land im Dämmerschein, Himmel Du mein blauer, Du mein Fröhlichsein.“
Aber diese nationale Lyrik blieb bei der jungen Generation, die den Krieg überlebt hatte, ohne Wirkung und Echo. Der DDR-Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei (Jahrgang 1927) begründete das damit, daß „Enttäuschung und Verzweiflung“ das Nationalgefühl aufgezehrt hatten. „Es hatte zuviel Tribut gefordert, deshalb verlor es seine unwiderstehliche Anziehungskraft.“ Bechers Deutschland-Lyrik „weckte nur Erinnerungen, und die waren bitter“. Deshalb wurde sie als „Nekrolog“ empfunden. Das Nationalgefühl mußte zu den „Kriegsopfern“ gerechnet werden. „Die Deutschen waren auf diese Weise nicht zu gewinnen, nicht zu neuer Bereitschaft mitzureißen.“
Das galt für die Flakhelfergenerationen im Westen wie im Osten. Sie identifizierten sich mit dem, was die jeweiligen Sieger ihnen boten: in der Bundesrepublik den American Way of Life, im Osten den Glauben an den Sozialismus. Letzterer ging 1989 unter, doch der siegreiche Widerpart war deshalb nicht ins endgültige Recht gesetzt und schon gar nicht identisch mit den Interessen des wiedervereinten Landes. Es bestand durchaus die Aufgabe, gemeinsam ein geläutertes Nationalgefühl zu rekonstruieren. Das wurde von Leuten wie Habermas blockiert, der darin nur den Versuch sah, „uns wieder in den deutschen Sumpf einzutauchen“.
Die Westbindung bzw. -orientierung wird nicht, wie es vernünftig wäre, als eine politische Option verstanden, deren Vorteile, Risiken und Nebenwirkungen ständig neu abgewogen werden müssen, sondern sie ist zum ins Metaphysische reichenden Glaubensbekenntnis geworden, das keine kritische Sichtung erlaubt. Dieser Dogmatismus führt zu politischer Naivität und Blindheit, welche Habermas und der eingangs zitierte Correctiv-Lemur miteinander teilen. So läßt sich sogar die Sprengung einer wichtigen Energieleitung durch fremde Mächte als freundschaftlicher Klaps interpretieren, der den Verirrten wieder auf den richtigen Weg bringt. Der selbstzerstörerische Widersinn, der in dieser Konditionierung liegt, wird im Osten aus historischen Gründen schärfer empfunden als im Westen.