Heute ist Mama gestorben“ ging als einer der berühmtesten ersten Sätze in die Literaturgeschichte ein. Es ist der Anfang von „Der Fremde“, der verstörenden Erzählung des Existentialisten und Nobelpreisträgers Albert Camus. Elena Fischers Roman „Paradise Garden“ beginnt so: „Meine Mutter starb diesen Sommer.“ Damit und mit dem, was diesem Satz folgt – die Schilderung der Umstände und Folgen eines tödlichen Unfalls –, hat es die 1987 geborene Mainzerin auf Anhieb zu einer Nominierung für den Deutschen Buchpreis gebracht.
Bedeutender dürfte ihr Sprung auf die Belletristik-Bestsellerliste des Magazins Der Spiegel sein. Dort landen in der Regel der Buchpreis-Gewinner (in diesem Jahr „Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger) und diejenigen unter den nominierten Romanen, die einigermaßen gut lesbar sind, Frauen und – im günstigsten Fall – auch eine jugendliche Leserschaft ansprechen. „Paradise Garden“ erfüllt gleich alle drei Kriterien. Komplexe Bandwurmsätze und exzentrische Sprachexperimente sucht man in Fischers Debütroman vergeblich, alle Haupt- und die meisten Nebenfiguren sind weiblich, und die Heldin der in der Ich-Form verfaßten Geschichte ist knapp fünfzehn Jahre alt, mithin also voll funktionsfähig als Identifikationsfigur für Leser im gleichen Alter.
Die Mutter blockte Fragen nach ihrer Vergangenheit stets ab
Billie, die mit richtigem Namen Erzsébet heißt, lebt mit ihrer Mutter Marika, einer gebürtigen Ungarin, die sich mitunter mehr wie eine gute Freundin anfühlt als eine Erziehungsberechtigte, in prekären Verhältnissen im 17. Stock eines mattgelben Wohnblocks am Stadtrand. „Von hier aus hätte man das Meer sehen können, wenn es ein Meer gegeben hätte. Aber es gab nur eine Autobahn.“ Die Wohnung hat nur zwei Zimmer; Marika schläft auf einer Luftmatratze im Wohnzimmer. Damit das Geld reicht, geht sie gleich zwei Beschäftigungen, als Reinigungskraft und als Bedienung in einer Kneipe, nach. Daß etwas auf den Tisch kommt, „das nicht mit ‘Tiefkühl-’ beginnt“, kommt selten vor.
Trotzdem liebt Billie ihr Leben und vor allem ihre Mutter, die wie sie nicht auf den Mund gefallen ist und sich immer wieder pfiffige Rededuelle mit ihr liefert. Am Anfang der Geschichte planen Mutter und Tochter den Urlaub ihres Lebens, denn die Sommerferien haben angefangen. Es soll nach Frankreich gehen, ans Meer. Dank eines Gewinnspiels im Radio sind sie zu etwas Geld gekommen. Das soll jetzt verjubelt werden. Doch dann kommt alles anders.
Zwei Hinweise liefert das im Schweizer Diogenes-Verlag erschienene Buch, das bei seiner Einordnung hilft. Der erste befindet sich auf dem Buchrücken und ist eine Empfehlung von Elena Fischers Kollegin Alina Bronsky, die mit „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ 2010 ebenfalls auf der Kandidatenliste für den Deutschen Buchpreis stand. In dem Roman steht eine abgefeimte, einzig in Sachen Selbstkritik unterbegabte Großmutter im Zentrum des Geschehens, die mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin nach Deutschland kommt und deren übergroßes Ego für allerhand Turbulenzen sorgt. In „Paradise Garden“ passiert in etwa dasselbe. Billies Oma kündigt sich zu Beginn des Romans aus ihrer Heimat Ungarn an, weil sie unter Herzproblemen leidet, die Ärzte in Budapest aber nichts gefunden haben. Jetzt sollen deutsche Ärzte etwas finden. Billie ist kein bißchen begeistert von der in ihren Augen bigotten und verschrobenen alten Dame, die ständig von Gott redet und sogar vor dem Essen betet. Daß sie für sie auch noch ihr Zimmer räumen und im Wohnzimmer schlafen muß, empfindet sie als Skandal. Außerdem hat das Mädchen von Marika erfahren, daß deren Mutter sie geschlagen hat, als sie noch klein war.
Der zweite Hinweis steht auf Seite 349. Dort, am Buchende, befindet sich eine Werbeanzeige für den Roman „Hard Land“ von Benedict Wells (JF 15/21), in dem ein fünfzehnjähriger Junge den Sommer seines Lebens erlebt, den Tod seiner Mutter verkraften muß, sich mit schrägen Typen herumtreibt und mit dem christlichen Glauben nichts anfangen kann. Was Sam, die Hauptfigur aus „Hard Land“ nicht unternimmt, ist eine Reise mit dem Ziel, seinen Vater zu finden. Das ist ein Motiv aus „Fast genial“, einem älteren Roman von Wells, der den Autor schlagartig berühmt machte. Eine ebensolche Reise ins Unbekannte bestimmt die zweite Hälfte von „Paradise Garden“. Nach dem Tod der Mutter ist Billie ins Heim gekommen, wo sie sich natürlich überhaupt nicht wohlfühlt. Mit der Großmutter kann sie auch nicht zusammenleben. Außerdem fallen ihr seit dem Unglück büschelweise die Haare aus. Verzweifelt schnappt die Heranwachsende sich den alten Nissan ihrer Mutter und macht sich auf die Suche nach ihrem Vater. Die einzigen Spuren sind ihre Geburtsurkunde, ein zerrissenes altes Foto, ein Kassenzettel und das Zertifikat einer Volkshochschule an der Nordsee, an der ihre Mutter einen Deutschkurs absolviert hat, als Billie ein Jahr alt war.
Daß die Schülerin über ihren Vater so wenig weiß, ist die Schuld ihrer Mutter, die Fragen nach ihrer Vergangenheit stets konsequent abblockte. Erst durch ihre Großmutter erfährt Billie ein paar Details aus Marikas Leben: daß sie mit vierzehn Jahren aus ihrem ländlichen Zuhause ausriß und in Budapest Tänzerin werden wollte. Die Reise, die Billie schließlich auf eigene Faust, ohne Führerschein und TÜV im Wagen ihrer Mutter unternimmt, ist nicht zuletzt eine Reise in die eigene Vergangenheit, die klären soll, woher sie kommt und wer sie eigentlich ist. Sie endet auf der Nordseeeinsel Spiekeroog.
„Paradise Garden“, übrigens der Name des „größten Eisbechers“ im Lieblingscafé von Billie und Marika, reiht sich bis zur Verwechselbarkeit ein zwischen Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ (inzwischen Schullektüre), Bov Bjergs „Auerhaus“, „Hard Land“ und „Fast genial“. Bei allen handelt es sich um Bücher mit einer unprätentiösen, leicht verdaulichen, gefälligen Sprache, als deren Prototyp Jerome D. Salingers „Fänger im Roggen“ mit seinem künstlerisch durch originelle Sprachbilder und Vergleiche aufgepeppten Jugend-Jargon durchscheint. Ein Hauch von Poesie, der den umgangssprachlichen Grundton als frischer Wind durchweht, ist auch die große Stärke von Elena Fischers Romandebüt. Trotz bekannter Muster mag man das Buch nicht trivial nennen. „Ich wollte nicht so triviale Dinge schildern wie Autopannen und Verfolgungsjagden“, so das erklärte Ziel der Autorin, auch wenn sie zugeben muß, daß die Reise ihrer Protagonistin, die sie auch als „innere Reise“ verstanden wissen will, natürlich „nicht realistisch“ ist. Immer wieder gelingen der 36jährigen wunderbare Sätze, die zum Schmunzeln bringen. Etwa wenn Billie die ambivalente Beziehung zu ihrer Klassenkameradin Lea schildert, einem Mädchen aus begüterten Verhältnissen: „Meine Freundschaft mit Lea war wie ein Haus mit Treppen, die nirgendwohin führten, und mit Türen, hinter denen ein Abgrund lauerte.“ Oder wenn sie auf der Suche nach ihrer Herkunft, deren religiöser Aspekt ein durchgängiges Subthema des Romans ist, die Zwischenbilanz zieht: „Gott saß nicht einfach so in einem Diner herum.“
Das hätte so ähnlich vielleicht sogar Meursault, der traurige Held aus Camus’ „Der Fremde“, formulieren können.
Elena Fischer: Paradise Garden. Roman. Diogenes, Zürich 2023, gebunden, 352 Seiten, 23 Euro