© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/24 / 06. September 2024

Zwischen Mythos und Logos
Vom dünnen Firnis der Zivilisation: Neuerscheinungen zu Leben und Werk des Kulturwissenschaftlers Aby Warburg
Dirk Glaser

Der Name Warburg produzierte in den letzten Jahren häufiger Schlagzeilen, da das Bankhaus M.M. Warburg & Co. tief im Sumpf des Cum-Ex-Steuerbetrugs versank. Zusätzliche politische Brisanz enthielt dieser Skandal durch den Verdacht, Olaf Scholz, seinerzeit Erster Bürgermeister Hamburgs und jetziger Bundeskanzler, habe zugunsten der Bank auf die Finanzbehörde der Hansestadt eingewirkt, um aus den dubiosen Cum-Ex-Geschäften resultierende Steuerrückforderungen verjähren zu lassen. Das Verfahren gegen den Hauptbeschuldigten, den langjährigen Aufsichtsratsvorsitzenden Christian Olearius, ist inzwischen jedoch wegen dessen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt worden.

Trotzdem dürfte das Ansehen der führenden deutschen Privatbank beschädigt sein. Makellos glänzt der Name Warburg heute nur noch in der Wissenschaftsgeschichte, in die sich Aby Warburg (1866–1929) als Kunsthistoriker von Weltrang einschrieb. Ausgerechnet dieser Warburg wäre als Erstgeborener einst an die Spitze des Unternehmens gerückt, wenn er seinen Anspruch nicht als Dreizehnjähriger an den jüngeren Bruder Max abgetreten hätte – gegen die Zusage, ihm alle Bücherkäufe zu finanzieren, die er tätigen werde. Max M. Warburg (1867–1946), einer der von Hamburg aus global operierenden Finanzgewaltigen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, schätzte dieses brüderliche Versprechen rückblickend als teuersten Blankoscheck ein, den er jemals ausgestellt habe. Denn der bibliomanische Aby versammelte als Privatgelehrter mit jährlichem Anschaffungsbudget von 5.000 Mark – das Zehnfache dessen, was zu Kaisers Zeiten ein Facharbeiter pro Jahr verdiente – bis 1914 schon 16.000 Bände in seiner Jugendstilvilla an der Außenalster.  

Er revolutionierte das Verständnis von Kunstgeschichte  

Damit nicht genug, durfte Max M. Warburg gemeinsam mit den drei anderen im Verwaltungsrat der Bibliothek vertretenen Bankiers-Brüdern enorme Summen bewilligen, um 1926 für den stetig wachsenden Bücherberg ein eigenes Gebäude zu errichten und die private Sammlung in die öffentliche „Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg“ (K.B.W.) zu verwandeln. Aby wußte die mäzenatischen Brüder zu trösten: „Andere reiche Familien haben ihren Rennstall, ihr habt meine Bibliothek – und das ist mehr; denn wer materielle Güter häuft, darf und muß auch etwas für die Entwicklung des Geistes tun.“ Außerdem sei es billiger als ein Rennstall. Und selbstbewußt fügte er hinzu: „Die Bibliothek wird noch bestehen, wenn das Bankhaus nicht mehr bekannt sein“ – oder sich in Verruf  gebracht haben wird. Jedenfalls garantiert die K.B.W., die 1933 mit ihren 60.000 Bänden ins Londoner Exil gezwungen wurde, seitdem als Warburg Institute die internationale Strahlkraft ihres Namenspatrons. 

Zu erwarten war das nicht angesichts seines aus dem zünftigen Rahmen fallenden Lebenswerks zum „Nachleben der heidnischen Antike in der frühmodernen abendländischen Kultur“. Eine Herkules-Aufgabe, die in Warburgs unorthodoxem Verständnis von Kunstgeschichte wurzelte. Das Fach hatte sich im 19. Jahrhundert aus der philosophischen Subdisziplin Ästhetik entwickelt und sich auf normative Bestimmungen des Schönen sowie auf die Deutung zeitlos schaffender Künstlergenies konzentriert.

Mit Jacob Burckhardts „Die Kultur der Renaissance in Italien“ (1860) und den Renaissance-Studien seines Straßburger Doktorvaters Hubert Janitschek, für den jeder Künstler die seiner Volkskultur  eigentümliche Weltsicht reproduziere, lagen im Ansatz zwar Warburg inspirierende Gegenmodelle breiter Einbettung von Kunstwerken in ihre gesellschaftlichen Entstehungsmilieus vor. Aber auch diese beiden Mentoren beharrten letztlich darauf, daß Kunst unabhängig sei von externen, von religiösen, politischen und ökonomischen Einflüssen. Darum behandelten sie Kunstwerke primär als ästhetische Objekte, während Warburg das Fach revolutionierte, indem er die Kunstgeschichte unter Einbeziehung von Psychologie, Ethnologie, Anthropologie, Religions-, Literatur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zur interdisziplinären Kulturwissenschaft ausbaute. In deren Rahmen geben Kunstwerke als psychosoziale Symptome Auskunft über die „seelische Gestimmtheit“ von Großkollektiven, ganzer Epochen und – im Idealfall – über die universalen Strukturen der Conditio humana.

Warburgs Arbeiten gehen vom traditionellen, zur Hochzeit des Kolonialismus durch intensive Erforschung „primitiver Völkerschaften“ vertieften Bild des vom Leib-Seele-Dualismus bestimmten menschlichen Verhaltens aus. Das verband sich bei ihm bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit dem verhaltenen Fortschritts- und Aufklärungsoptimismus, dem zufolge im Prozeß der Zivilisation die „Tierheit“ (Schelling), die dunkle triebgesteuerte von der lichten, rational organisierten Schicht der Persönlichkeit kontrolliert werden könnte. Warburg folgte insoweit der psychoanalytisch basierten Kulturtheorie Sigmund Freuds und dessen Credo: „Wo Es war, soll Ich werden.“

Der Gründungsakt der Zivilisation besteht darin, daß der Mensch angsterzeugende Naturmächte mittels kultureller Praktiken auf Distanz hält. Wegen ihrer die Macht der Dämonen unterdrückenden, symbolische Weltordnungen stiftenden Funktion stehen Religion und Kunst folglich im Zentrum von Warburgs Beiträgen zur kulturwissenschaftlich angeleiteten Selbstaufklärung der europäischen Menschheit. Fernziel solcher Sisyphusarbeit ist ihm das Paradies des globalen „angstfreien Raumes“. Das sei anzustreben, müsse aber ewig unbetretbar bleiben, weil das zwischen Es und Ich, Mythos und Logos, Wahn und Vernunft ausgefochtene welthistorische Psychodrama keinen Sieger kenne. Sondern nur fragile Balancezustände, wie sie der Botticelli-Ikonograph Warburg in der Hochkultur der florentinischen Frührenaissance freilegte, wo unter der Herrschaft des Medici-Clans ein Maximum künstlerisch-kultureller „Angstbannung“ erreicht worden sei. Der Normalzustand ist für Warburg hingegen, daß der zivilisatorische Firnis dünn ist, wie ihm die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs bestätigte, die seinen eignen psychischen Zusammenbruch auslöste.

Exkursion in die Indianerreservate im Westen der USA

Von Florenz scheinen zwei Neuerscheinungen in der zur Sturzflut angeschwollenen Warburg-Literatur denkbar weit weg zu führen: zu den Pueblo-Indianern in Arizona und New Mexiko einerseits, in die esoterischen Gefilde der Astrologie-Geschichte andererseits. Doch auf den zweiten Blick erweist sich, daß Warburg nur jeweils das Labor wechselte, um im Schlangentanz der Hopi wie im astrologischen Aberglauben der Frühen Neuzeit Variationen seines Generalthemas Wirklichkeitsbewältigung durch Symbolbildung zu studieren.    

Diesem Zweck diente die jetzt von dem Hamburger Kunsthistoriker Uwe Fleckner akribisch rekonstruierte, mit Fotografien aus dem Londoner Nachlaß reich illustrierte Exkursion, zu der Warburg 1895/96 in die Indianerreservate im Westen der USA aufbrach, in die „Enklaven primitiven heidnischen Menschentums inmitten eines Landes, das die technische Kultur zu einer Präzisionswaffe in der Hand des intellektuellen Menschen gemacht hatte“. Es war zugleich eine Zeitreise ins archaische Griechenland, da er glaubte, in den Tanzritualen der Pueblo-Indianer ähnliche, Konflikten zwischen magischem und rationalem Denken  entspringende Vorgänge der Symbolbildung in der unmittelbaren Gegenwart so erfassen zu können, wie es ihm möglich gewesen wäre als Zeitzeuge im Land der orgiastischen Riten, der dionysischen Ekstase und der Mänaden, die mit Schlangen im Haar wohl ähnliche Tänze vollführten wie die Hopi mit ihrem um Regen bittenden legendären Schlangentanz. Über Zeiten und Räume hinweg meint Warburg hier der Konstanz kulturanthropologischer Universalien zu begegnen, wie sie bereits Goethe fixierte: „Es ist ein altes Buch zu blättern: Von Harz bis Hellas, immer Vettern.“ Unter Verweis auf den Schauplatz der Hopi-Tänze wandelt Warburg ab: „Athen – Oraibi – alles Vettern“.

Mit ihrer Edition des verblüffenderweise von der Forschung bislang ignorierten Briefwechsels mit dem als Astrologie-Historiker berühmten Klassischen Philologen Franz Boll (1867–1924) gewährt die Literaturwissenschaftlerin Dorothee Gelhard weitere tiefe Einblicke in Warburgs unermüdliche Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte der „reinen Unvernunft“. Der fatalistische, aus dem arabischen Orient gespeiste Glaube, Planetenkonstellationen, Astralkräfte, kosmische Dämonen regierten das Schicksal des Menschengeschlechts, hatte sich trotz kirchlicher Repressionen im Mittelalter erhalten und erlebte eine Hochblüte ausgerechnet in der Geburtsstunde der modernen Naturwissenschaft, als mit Keplers mathematischer Berechnung der Planetenbahnen astronomisches Wissen astrologische Spekulationen zu verdrängen schien. Aber nicht im Volksglauben und nicht einmal, wie Warburg in seiner letzten Studie vor dem psychischen Kollaps nachwies, bei den Gelehrten im Umkreis Luthers, wo selbst Philipp Melanchthon, der Lordkanzler der Reformation, der „Narrheit der Sternenkücker“ (Luther) verfiel. Der in die Zeit von 1914 bis 1918 fallende Teil der Korrespondenz spiegelt wider, daß die psychischen Ursprungsregionen solcher Narrheit nicht ausgetrocknet waren und im 20. Jahrhundert nicht nur den „Blutwahnsinn“ (Boll) des Ersten Weltkriegs befeuerten.


Uwe Fleckner: Der Blitz und die Schlange. Aby Warburgs amerikanische Reise. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2023, gebunden, 192 Seiten, Abbildungen, 38 Euro

Dorothee Gelhard (Hg.): Sternenfreundschaft.Die Korrespondenz Aby Warburg und Franz Boll. Wallstein Verlag, Göttingen 2024, gebunden, 380 Seiten, 44 Euro

Foto: Aby Moritz Warburg (1866–1929), Foto undatiert, um 1925, digital koloriert