© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/24 / 06. September 2024

Wirt mit Pragmatismus
Serie Bewegende Köpfe, Teil 17: Der SPD-Politiker Friedrich Ebert brillierte als Lebenspraktiker und Reichskonkursverwalter
Rainer F. Schmidt

Er war der Kleinbürger auf dem Sessel der Macht, jener Mann aus der Masse, den Robert Musil wenige Jahre später als „Mann ohne Eigenschaften“ titulierte. Plötzlich fand er sich auf der Bühne der großen Politik, die ihm immer verwehrt geblieben war, umschmeichelt und hofiert von denen, die auf ihn herabgeblickt, ihn diffamiert, ja lächerlich gemacht hatten. 

Friedrich Ebert war kein Schurke großen Formats, für den ihn seine Gegner hielten, auch kein Opportunist oder geldgieriger Raffzahn, wie viele seiner Anhänger argwöhnten. Er war ein Pragmatiker und Realpolitiker, mit dem präzisen Blick für das Machbare und das Mögliche. Aber seine Welt war ganz von unverrückbaren, engen Festungsmauern umhegt: von Patriotismus und Verantwortungsbewußtsein, von Sicherheitsdenken und Risikoscheu, von Opferbereitschaft und Ordnungsfanatismus. 

Die dialektische List der Geschichte katapultierte diese Durchschnittsnatur just in dem Moment auf den entscheidenden Platz, als alles auf ihn, auf zupackende Energie und Wagemut ankam. Seine historische Leistung weist deshalb nichts Dämonisches, Visionäres oder gar Heroisches auf. Vielmehr bestand sie darin, die Entwicklung im Nachkriegsdeutschland 1918 in geordnete Bahnen zu lenken und das Bestehende behutsam zu renovieren. 

Daß sich einst alle Augen auf ihn richten würden, daß noch heute Schulen, Straßen, Plätze und sogar eine Parteistiftung nach ihm benannt sind, grenzt an ein Wunder. Er war keine imponierende Erscheinung: dickleibig und klein mit einem birnenförmigen Kopf. Nur sein die Mundpartie umrahmender, mächtiger Schnauzbart, der artifiziell gezirkelt auf die kaum sichtbare Halspartie nach unten zulief, hob ihn aus der Masse heraus. Zwar war er der Nachfolger von wortgewaltigen Volkstribunen, die die Massen in ihren Bann schlagen konnten. Aber ihm selbst fehlte jedes mitreißende rhetorische Talent. Er sprach mit kehliger, unmodulierter Stimme, las seine Reden vom Manuskript ab und rang oft, wenn er improvisieren mußte, nach Worten und Formulierungen. 

Er war auch kein Intellektueller, kein Mann großer Visionen. In den hitzigen Debatten, die den Reichstag im Kaiserreich beherrschten, über Revolution oder Reform, über Parlamentarisierung und Friedensresolution, hatte er sich nie zu Wort gemeldet, nie Stellung bezogen. Aber was er sofort getan hatte, als er in den Parteivorstand gewählt wurde, war, für Telefone und Schreibmaschinen in den Büros zu sorgen und eine ordentliche Registratur einzuführen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war er derjenige gewesen, dem man die Parteikasse und die Mitgliederkartei anvertraut hatte. Er brachte sie nach Zürich in Sicherheit, um dann brav und pünktlich nach Berlin zurückzukehren. 

Er war auch kein Proletarier. Vielmehr entstammte er der Familie eines selbständigen Schneidermeisters in Heidelberg, wo er unmittelbar nach der Reichsgründung geboren wurde. Dort, in der Pfaffengasse 18, führt noch heute die alte, verwinkelte Holztreppe hinauf in die drei engen Zimmer mit den niedrigen Decken, wo er mit mitsamt seinen acht Geschwistern auf knapp 50 Quadratmetern aufwuchs und wo ein Zimmer für die Werkstatt seines Vaters reserviert war. Die bescheidene Behausung ist heute eine Gedenkstätte mit einer Dauerausstellung. Für ihn selbst, der sich für eine Lehre als Sattler entschied, reichte es nicht einmal zur Gesellenprüfung.  

Nicht die Studierstube oder die Agitation brachten ihn in die Politik, sondern das Gastgewerbe. Schamhaft hat er zeitlebens verschwiegen, daß er ab 1894 als Pächter eine Bierkneipe in Bremen führte. Der materielle Erfolg des Gasthauses erlaubte ihm die Heirat mit Louise Rump und die Gründung einer fünfköpfigen Familie. Vor allem aber verschaffte er sich hier, stets ein Ohr für die Sorgen und Nöte seiner Gäste, eine intime Kenntnis der sozialen Probleme seiner Zeit: der überlangen Arbeitszeiten, der menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und der Machtlosigkeit der Arbeiter gegenüber den auf Profit getrimmten Unternehmerinteressen. In dieser Zeit formte sich seine Skepsis aus gegenüber Theoriedebatten, realitätsfernen Ideologieentwürfen und Umsturzphantasien. Er war der Anwalt pragmatischer Lösungen, lebenspraktischer Reformen, voller Anteilnahme und Nähe zu den Menschen.

Das war und blieb sein Kapital und wurde zum Sprungbrett seiner politischen Karriere. 1905, mit 34 Jahren, ergatterte er die ihm auf den Leib geschneiderte Stelle des Sekretärs beim SPD-Parteivorstand in Berlin. Und jetzt machte er ganz Deutschland zu seiner Gaststube. Mit unermüdlichem Einsatz reiste er im Land umher, half den Leuten, wo er konnte und trug ihre Wünsche dem entrückten Parteivorstand vor. Acht Jahre später wurde er von der Basis zum Parteivorsitzenden gekürt. 1916 avancierte er zum Fraktionsvorsitzenden im Reichstag, und nach dem Ende des Krieges wurde er als Kanzler und Reichspräsident zum Konkursverwalter des untergehenden Kaiserreichs bestellt. Inmitten von Chaos und Anarchie zögerte er keinen Augenblick, für Sicherheit und Ordnung einzutreten. Er wurde zum Mann der Stunde, der dafür sorgte, daß das auf den Trümmern der Niederlage errichtete neue Deutschland nicht wie Rußland im Sumpf von Blutorgien und Terror versank, sondern auf der demokratisch verbrieften Mehrheitsentscheidung seiner Wahlbürger ruhte. 

Gedankt haben ihm das weder seine Parteifreunde noch seine Zeitgenossen. Für die einen wurde er zum Verräter und Arbeitermörder, weshalb sie nicht müde wurden, ihn durch Verbalinjurien herabzuwürdigen und seinen Parteiausschluß zu fordern. Für die anderen avancierte er zum Landesverräter, der auf dem Höhepunkt des Krieges, im Januar 1918, einen Munitionsstreik organisieren half, der die Nation angeblich um den Sieg gebracht hatte, weshalb sie ihn immer wieder mit ehrabschneidenden Beleidigungsanklagen überzogen. 

Wenn er sich noch aus dem Haus wagte, dann nur mit einem als Spazierstock getarnten Degen und schwer bewacht von Kriminalbeamten. Den Verlust, den die Republik mit seinem Tod am 28. Februar 1925 erlitt, erkannten nur die einfachen Leute, von denen fast eine Million hinter seinem Sarg her schritten, als dieser durch die Straßen Berlins gezogen wurde. Und die Partei zeigte sich schuldbewußt, als sie eilfertig binnen dreier Tage eine Stiftung ins Leben rief, die bis heute seinen Namen trägt.



Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.