© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/24 / 06. September 2024

Irland im Schatten des Hungers
Die bis 1849 andauernde „Great Famine“ und die daraus resultierende Massenauswanderung haben demographisch auf der Grünen Insel bis heute noch spürbare Auswirkungen



Thomas Schäfer

Seit 1541 unterstand Irland der englischen Krone, wogegen die Iren immer wieder rebellierten. London reagierte hierauf mit harten Unterdrückungsmaßnahmen, in deren Folge die irische Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert um rund vierzig Prozent schrumpfte. Außerdem setzten die Briten Gesetze durch, welche die Iren ihrer Identität berauben sollten. Dazu kam eine großangelegte Landwegnahme, die bewirkte, daß die meisten Iren ein höchst prekäres Leben als unfreie Bauern fristen mußten, deren Ernährung vorwiegend aus Kartoffeln bestand. Deshalb lösten schlechte Erträge bei der Kartoffelernte jedesmal eine Hungersnot aus, so wie beispielsweise in den Jahren 1740/41.

Durch die Klimaabkühlung ab 1816, dem „Jahr ohne Sommer“ und aufgrund des Ausbruchs des indonesischen Vulkans Tambora gab es bis 1842 weitere 14 Kartoffel-Mißernten. Doch damit nicht genug: Die häufigeren Niederschläge in dieser Zeit führten 1842 in Nordamerika zum Auftreten einer Kartoffelfäule, für die der Pilz Phytophthora infestans verantwortlich war. Dieser Parasit wurde im Winter 1843/44 nach Europa eingeschleppt, woraus extrem starke Ernteausfälle und Hungerunruhen resultierten, zu denen auch die Berliner „Kartoffelrevolution“ vom April 1847 gehörte. 

Am schlimmsten traf es aber Irland, was zwei Gründe hatte. Zum einen erwiesen sich die beiden hier angebauten Kartoffelsorten als besonders anfällig und zum anderen blieb der britische Staat passiv. Er verbot weder die Destillation von Alkohol aus Lebensmitteln noch verhängte er einen Exportstopp für landwirtschaftliche Produkte. Daher lieferte Irland während der Hungerjahre infolge des Kartoffelmangels mehr Fleisch, Butter, Milch und Getreide als je zuvor. Insofern war die Hungersnot auf der Insel letztlich eine künstlich forcierte und somit weitgehend vermeidbare Katastrophe gewesen. Und nach dem Machtantritt des neuen radikalliberalen britischen Premierministers John Russell im Juli 1846 eskalierte die Situation noch weiter.

Irische Pächter wurden gnadenlos von Haus und Hof vertrieben

Irische Landwirte, welche ihre Pacht nicht mehr aufbringen konnten, wurden von den englischen Großgrundbesitzern (Landlords) nun gnadenlos von Haus und Hof vertrieben und fielen dadurch im darauffolgenden Winter 1846/47 in Massen der Kälte oder Seuchen zum Opfer. Daraufhin versuchte die Regierung mit halbherzigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegenzusteuern, die jedoch zu spät kamen. Denn die meisten Hungernden waren nicht mehr in der Lage, zu arbeiten und auf diese Weise ein Einkommen zu erzielen. Deshalb nahm die Katastrophe ihren Fortgang, weswegen schließlich 1847 Suppenküchen eingerichtet werden mußten. Gleichzeitig gab es eine große nationale und internationale Spendenwelle zugunsten der Iren. Zu den Personen, welche erhebliche Beiträge aus ihrer Privatschatulle beisteuerten, gehörten Queen Victoria, der russische Zar Alexander II., der osmanische Sultan Abdülmecid I., US-Präsident James Polk und Papst Pius IX. Außerdem brachten 118 Schiffe aus den USA Hilfsgüter nach Irland.

Allerdings vertrat der stellvertretende Leiter des britischen Schatzamtes und Bevollmächtigte für die Hungerhilfe Charles Trevelyan die Ansicht, die Hungersnot sei eine Folge der „allwissenden und barmherzigen Fürsorge“ des Staates. Daher strich er die Zuschüsse für die Suppenküchen, wodurch das Elend letztlich noch bis 1849 anhielt. Wobei es Gegenden in Irland gab, in denen sogar bis ins Jahr 1851 hinein Leichen von Verhungerten auf der Straße gelegen haben sollen. 

Die Folgen der Großen Hungersnot („Great Famine“ auf englisch, „An Gorta Mór“ auf irisch) in Irland, welche im Wesentlichen vor 175 Jahren endete, waren gravierend und sind teilweise bis heute spürbar. Letzteres gilt vor allem für den demographischen Einbruch auf der Grünen Insel im Atlantik. Zwar wird sich niemals genau klären lassen, wie viele Iren zwischen 1845 und 1849 starben, jedoch gehen die meisten Wissenschaftler von etwa einer Million Hungertoten aus, was etwa zwölf Prozent der damaligen Bevölkerung entsprach. Dazu kamen bis zu zwei Millionen Menschen, die durch Auswanderung beziehungsweise Flucht nach Kanada, Australien und in die USA sowie in die Industriezentren von Schottland, Südwales und England zu überleben versuchten, was aber nicht jedem gelang. So fiel ein Fünftel der nach Kanada Übergesiedelten Krankheiten oder den Folgen des erlittenen Hungers zum Opfer. Zudem waren die Zielregionen manchmal mit der Versorgung der Neuankömmlinge überfordert, denn zeitweise trafen so viele Auswanderer gleichzeitig in Nord-amerika ein, daß sich die Einwohnerschaft in den dortigen Hafenstädten schlagartig verdoppelte.

Weil auch nach der Hungersnot Hunderttausende Iren ihrer Heimat den Rücken kehrten, lebten auf der irischen Insel 1904 letztlich nur noch 4,4 Millionen Menschen. Seither wuchs die Bevölkerung langsam wieder auf rund sieben Millionen, was aber weiterhin unter dem Stand von 1845 liegt, als man etwa achteinhalb Millionen Iren zählte.

Eine zusätzliche Folge der Hungersnot war das fast völlige Verschwinden der irisch-gälischen Sprache. Kommunizierten 1841 noch vier Millionen Iren auf gälisch, sank deren Zahl bis 1851 auf weniger als zwei Millionen – und durch die unablässige Auswanderung setzte sich dieser Rückgang fort. Ebenso stark fiel der kulturelle Verlust aus, da viele alte Bräuche, Lieder und Tänze in Vergessenheit gerieten.

Etliche Emigranten aus Irland exportierten ihren Haß auf England in die neue Heimat und unterstützten von dort aus Widerstandsorganisationen wie die Irish Republican Brotherhood (IRB) und Irish Land League (ILL) moralisch und wenn möglich auch finanziell. Dabei war es allerdings nicht so, daß die Hungersnot wie eine gewaltige Initialzündung für den verstärkten Kampf um die irische Unabhängigkeit wirkte. Der Aufstand der Bewegung Young Ireland von 1849 unter William Smith O’Brien und Charles Gavan Duffy scheiterte mangels entsprechender Ausrüstung und Organisation sowie aufgrund fehlenden Engagements der Bevölkerung. Denn viele Iren waren durch die vier Hungerjahre am Ende ihrer Kräfte und ausschließlich auf das unmittelbare physische Überleben fixiert.

Die Große Hungersnot dominiert bis heute das nationale Gedächtnis

Andererseits zog nach der Hungersnot nie wieder Ruhe in Irland ein, weil unablässig neue Kräfte auf den Plan traten, um die Unabhängigkeit mit politischen Mitteln oder Waffengewalt zu erzwingen. Marksteine auf diesem Wege waren die IRB-Revolte von 1867, der Osteraufstand von 1916 sowie der Irische Unabhängigkeitskrieg von Januar 1919 bis Juli 1921, in dem die Streitkräfte der 1919 proklamierten Republik Irland gegen britische Truppen kämpften. Das Ganze endete mit einem Waffenstillstand, auf den Friedensgespräche und der Anglo-Irische Vertrag vom 6. Dezember 1921 folgten. Durch diesen mutierte das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland zum Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, während es parallel dazu am 6. Dezember 1922 zur Gründung des Irischen Freistaates kam, aus dem am 29. Dezember 1937 Éire (Irland) wurde. Dort dominiert bis heute die Große Hungersnot das nationale Gedächtnis, wovon unter anderem das An Gorta Mór Memorial zwischen Ennistymon und Lahinch sowie das Famine Monument in Dublin zeugen. 


Rodney Charman „Vertreibung, Mutter mit drei Kindern“, Gemälde 2016: Die Bevölkerungszahl ging in Irland von 8,3 Millionen 1840 auf 4,4 Millionen im Jahr 1900 zurück ,