© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/24 / 06. September 2024

„Ich vermeide, dem Krieg zu folgen“
Sanktionen, Propaganda und Plattenbaurenovierung: Youtuber zeigen den russischen Alltag
Dirk Engelhardt

Seit dem Krieg zwischen Rußland und der Ukraine werden Berichte von Auslandskorrespondenten rar, die das Leben in Rußland oder Reisereportagen zeigen. Doch es gibt Youtuber, die über den Alltag berichten und politische Meinungen äußern.

Das „moderne russische Mädchen“ Lisa zeigt auf ihrem Kanal „Lisa with Love“, mit was junge russische Frauen so alles zu kämpfen haben. Immerhin fast 52.000 Zuschauer folgen ihr dabei, wie sie beispielsweise eine alte sowjetische Wohnung renoviert. Dabei ist sie in verschiedenen poppigen Outfits dabei zu bewundern, wie sie Fensterrahmen streicht oder alte Holzstühle neu lackiert. Politischer wird es in einem Beitrag, wie man in Rußland mit den Sanktionen umgeht. Dabei zeigt die immer perfekt geschminkte Lisa erst einmal ihre Geldbörse. „Meine Kreditkarten sind im Ausland völlig wertlos“, sagt sie beschwörend, um gleich hinzuzufügen, daß ausländische Kreditkarten in Rußland auch nicht akzeptiert werden.

Anna Goldman, der rund 85.000 Zuschauer folgen, weiß sich fotogen in Szene zu setzen. Auf einem belebten Platz in Moskau zieht sie sich erstmal eine knallrote Russenmütze mit Hammer und Sichel auf, um dann über elf Dinge zu sprechen, die man in Rußland nie machen sollte. Dazu gehört es, sich immer die Schuhe auszuziehen, bevor man eine russische Wohnung betritt. Weniger bekannt ist vielleicht, daß man in einer Wohnung nie pfeifen sollte. Denn: Pfeifen bedeutet Unglück in Rußland! Regel Nummer drei besagt, daß man leere Flaschen nie auf dem Tisch stehenlassen sollte. Der Grund ist der gleiche: Leere Flaschen auf dem Tisch bringen Unglück.

Regel vier: In Rußland sollte man nicht unentwegt lächeln. Ein Lächeln schenkt man nur Freunden und Familie, Fremden dagegen begegnet die Normalo-Russin mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck.

Berichte zwischen Putin-Wahl, Kochen und Auswandern

Agent Nesty, eine braunhaarige junge Frau, hat auf ihrem Kanal rund 103.000 Zuschauer. Sie zeigt beispielsweise, wie sie zum Wahllokal geht, um Putin zu wählen, oder wie sie als Mädchen vom Lande allein in Moskau lebt. Gestylt mit lässigem schwarz-weißem Trainingsoutfit und einer fetten goldenen Armbanduhr läßt sie sich filmen, wie ihr Freund sie auf einer 15 Stunden langen Autofahrt nach Moskau bringt. In dem heruntergekommenen Mietshaus am Rand der Großstadt, in dem sie eine kleine Wohnung gemietet hat, betet sie erst einmal in dem rumpeligen Aufzug, der sie nach oben fährt. Dann geht es mit der Metro in die Innenstadt, und selbst für Russen ist die russische Großstadt ziemlich verwirrend. Ein weiteres Video von Nesty zeigt eine Zugfahrt, bei der sie für sich und ihren Hund ein ganzes Schlafwagenabteil gebucht hat. An Bahnhöfen sieht man Züge mit Kriegspropagandabeschriftung und Militärkapellen, und irgendwann steigt ein Mann bei ihr ins Abteil ein, um sie eindringlich zu warnen, nichts über den Krieg zu bloggen. „Sie sind noch jung“, sagt er, „und es sind schon Blogger einfach so verschwunden, die über den Krieg berichtet haben“. Bei Nesty entsteht ein ungutes Gefühl, und ihre Zuschauer fürchten, daß sie wegen ihrer offenen Art und Weise bald vom Geheimdienst nach Sibirien verschleppt werden könnte. Die Antwort von Nesty: „Wenn alle guten Leute Rußland verlassen, wer wird dann das Land zu einem besseren Ort umbauen?“ 

Natasha hat auf ihrem Kanal „Natasha’s adventures“ sogar mehr als 370.000 Zuschauer, und auch sie kritisiert relativ offen Mißstände im Land. In einem Beitrag erzählt sie ungeschminkt und mit Ringen unter den Augen davon, wie die Polizei sie aufsuchte und wie sie Rußland verließ. „Ist es sicher für mich, nach Rußland zurückzukehren?“ fragt sie eher rhetorisch und wägt dabei das Für und Wider ab. Sie sagt auch ganz offen, daß sie wegen der Sanktionen das Geld, das sie mit ihrem Youtube Kanal verdient, in Rußland nicht erhalten könne – das wäre neben der politischen Lage der Hauptgrund für die Auswanderung. Angeblich könne man in Rußland nur Geld mit Youtube verdienen, wenn man in Dubai ein Gewerbe anmeldet, doch Genaueres weiß Natasha nicht. 

Wie man es sich im Winter bei minus 40 Grad in einem sibirischen Dorf gemütlich macht, zeigt „Nastya and village life“ auf ihrem Kanal, der mehr als 120.000 Zuschauer hat. An Weihnachten macht sich dort die üppige Lichterdeko auf dem kleinen Häuschen, alles tief verschneit, äußerst „instagrammable“. Das Holzfeuer brennt im Kamin, der Hund kuschelt sich in eine Decke – die Idylle ist perfekt, zumindest auf Youtube; nächtliche Schlittenfahrten auf aufblasbaren Schlitten inklusive. 

In der oberen Liga spielt der Russe Roman, der auf seinem Youtube-Kanal „NFKRZ“ mehr als 1,2 Millionen Zuschauer versammelt. Bei ihm wird es meist hochpolitisch, in Beiträgen wie „Warum ich vermeide, dem Krieg zu folgen“. „Hey Leute, ich bin Roman, ein Russe, der Rußland verließ, und ich mache Videos über die russische Propaganda, und ich sorge mich um die Zukunft von Rußland und der Ukraine“, beginnt er ein Video in gutem Englisch. Roman kehrte Rußland schon vor zwei Jahren den Rücken und lebt und sendet jetzt aus Portugal. „Das Land, das ich liebe und in dem ich aufwuchs, existiert nicht mehr“, ist sein bitteres Fazit.