Frau Voss, wann haben Sie mit der Linken gebrochen?
Pauline Voss: Nun, ich war nie eine krasse Linke ...
Aber eine Linke, oder?
Voss: Wenn, war ich eher kapitalismuskritisch. Und ich würde nicht sagen, daß es „den“ Punkt gab, der alles änderte. Vielmehr war es ein jahrelanger Prozeß, der bereits zu meiner Gymnasialzeit begonnen hat.
Waren Sie damals nicht eine der „Woken“, die Sie heute kritisieren?
Voss: Damals gab es das Wort nicht. Aber tatsächlich überlegte ich mir, wie ich mich gegen Ungerechtigkeit engagieren könnte. So hatten wir jüdische Klassenkameraden, die schließlich nur noch als „die Juden“ bezeichnet wurden. Für mich klang das komisch, antisemitisch. Also sagte ich empört: „Nennt die bloß nicht ‘die Juden’, das ist schlimm!“
Wie haben Ihre Mitschüler reagiert?
Voss: Sie fingen an, in meiner Anwesenheit statt dessen die Namen der jüdischen Mitschüler zu nennen. Das sorgte aber für verklemmte Situationen, weil wir wußten, daß sie gerne „die Juden“ sagen würden. Es hat nichts gebracht.
Die Sprachregeln verbesserten also nichts. Wieso haben Sie dennoch weitergemacht?
Voss: Ich würde sagen, wenn man keine gravierenden Ungerechtigkeiten sieht, bauscht man Kleinigkeiten zu welchen auf.
Genau das werfen Sie vor allem den jungen Linken in Ihrem Buch „Generation Krokodilstränen“ über die „Wokeness“ vor. Was meinen Sie damit?
Voss: Das Wort „Krokodilstränen“ beschreibt einen simulierten Schmerz, den die Woken als Waffe in der politischen Auseinandersetzung nutzen.
Woher aber die Gewißheit, daß deren Anliegen nicht einer echten Sorge entspringen?
Voss: Ich mache es an den gängigen Diskussionsthemen fest. Zum Beispiel „Mikroaggressionen“, also als verletzend geltende Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Darunter die Frage: Wo kommst du her? Mir kann keiner erzählen, daß es wirklich schlimm ist, wenn man so was gefragt wird! Die meisten fragen es nur aus Interesse.
Was machen die Woken noch zum Problem?
Voss: Etwa das Verwenden „falscher“ Geschlechterpronomen. Plötzlich fordern einige Leute, sie mit „they/them“ anzusprechen – zu deutsch „sie/ihnen“ im Plural –, weil sie sich weder als Mann noch als Frau sehen. Wenn das wirklich das einzige Problem ist, kann ich nicht glauben, daß es um echten Schmerz geht. Das ist absurd!
Aber einen Grund wird es wohl haben, daß so viele diesen vermeintlich simulierten Schmerz verinnerlichen, meinen Sie nicht?
Voss: Ich glaube, unserer Generation fehlt es an Halt und Stabilität. So sehr, daß sie verlernt hat, eigene Anliegen zu erkennen. Was sie etwa kaum anspricht, sind die zerbrechenden Familienstrukturen. Es gilt als normal, daß sich Eltern trennen und anschließend neue Geschwister hinzukommen. Das ist nicht immer schlecht oder zu vermeiden, sorgt aber für Unsicherheit. Auch die Bindung an die Kirche fehlt, die jahrhundertelang sinnstiftend war. Das bringt eine innere Leere mit sich. Diese füllt die Wokeness, die einer Religion ähnelt: Dogmen, klare Regeln, Besserungsrituale und das Reinheitsgefühl, wenn man sie verinnerlicht.
Ist die Wokeness nicht eher eine Konsequenz des Liberalismus? Beide wollen das Volk von traditionellen Strukturen – etwa der Kirche – loslösen.
Voss: Nein, denn der Liberalismus kämpft nicht nur gegen diese Strukturen. Er widersetzt sich auch einem übergriffigen Staat, der sich ins Privatleben der Bürger einmischt. Nehmen wir an, ich würde mich ab morgen als Mann identifizieren, nur mit tiefer Stimme sprechen und mir ein Jackett anziehen. Da sagt der Liberale: Mach doch, so oft, wie du möchtest! Dagegen will der Woke den Staat dazu bringen, mich offiziell als Mann zu bezeichnen und jeglichen gesellschaftlichen Widerspruch unter Strafe zu stellen.
Beide beanspruchen jedoch, Freiheit und Gleichheit erreichen zu wollen.
Voss: Zu Unrecht. Denn der Woke behauptet nur, dafür einzustehen, kämpft aber für das Gegenteil. Er will sexuelle Minderheiten „befreien“, indem er unzählige Kategorien für sie schafft. Er will Schwarze „befreien“, indem er ihren Anteil in jeder Fernsehsendung haargenau analysiert. Er kämpft also für neue Schubladen – der Liberale hingegen für ihre Überwindung.
Was macht die Wokeness dann für so viele attraktiv?
Voss: Zum einen füllt sie die innere Leere. Zum anderen ist die woke Bewegung eine, bei der es weniger um Inhalte als um Mittel, um Machttechniken geht. Wer sich mit den woken Argumentationsmustern beschäftigt, lernt, wie Macht ausgeübt wird. Die Woken beteiligen sich nämlich nicht gleichberechtigt an der Diskussion, sondern wollen bestimmen, wer überhaupt mitdiskutieren darf.
Will das nicht jeder? Auch liberale Philosophen wie Karl Popper konnten sich den Ausschluß als gefährlich geltender Ideen aus dem Diskurs vorstellen.
Voss: Klar, Freiheit ohne gesetzliche Schranken funktioniert nicht. Ich finde es zum Beispiel richtig, daß die Holocaustleugnung unter Strafe steht, ebenso Verleumdung, üble Nachrede oder Beleidigung. Aber bei den Woken reichen bereits harmlose Äußerungen, um jemanden auszugrenzen. Mittlerweile sogar, Reizworte auszusprechen, ohne sie sich zu eigen zu machen! Etwa Boris Palmer, der das Wort „Neger“ als Zitat verwendet hatte und dafür von Studenten unter Druck gesetzt wurde. Am Ende sah er sich gezwungen, die Grünen zu verlassen – für ein bloßes Zitat! Hier schon Diskriminierung zu sehen ist eine der Machttechniken, die ich in meinem Buch beschreibe.
Darin stellen Sie die „Diskriminierungshypothese“ auf, womit Sie an den französischen Philosophen Michel Foucault anknüpfen. Können Sie das erläutern?
Voss: Foucaults ursprüngliche Idee, die „Repressionshypothese“, entstammt seinem Buch „Der Wille zum Wissen“ aus dem Jahr 1976. Darin analysiert er die Geschichte der Sexualität, um die Funktionsweise der Gesellschaft aufzuzeigen. So rede sie sich ein, die Sexualität sei unterdrückt und gehöre „befreit“. Dem entgegnet Foucault: Ist diese „Befreiung“ nicht bloß ein Versuch, in neuem Gewand zu unterdrücken? Denn wer befreien will, braucht Unterdrückte – schwache Personen, für die sich die selbsternannten Befreier einsetzen können. Daraus entwickle ich die „Diskriminierungshypothese“: Die Woken behaupten, die Gesellschaft sei permanent von der Diskriminierung durchdrungen – und ihre oberste Aufgabe, überall dagegen zu kämpfen. Die Folgen sehen wir in der Migrationsdebatte: Seit zehn Jahren beobachten wir eine große illegale Einwanderung nach Deutschland, reden darüber aber vor allem im Diskriminierungskontext. Etwa als Friedrich Merz nach den Silvesterkrawallen vor zwei Jahren über „kleine Paschas“ sprach. Darauf folgte eine regelrechte Welle der Empörung, ohne daß über das dahinterliegende Problem patriarchaler Strukturen bei Moslems gesprochen werden konnte.
Wer führt diese „Abwehrkampagne“ an?
Voss: Jene, die überall „Diskriminierung“ zu erkennen meinen, die die Chiffren der Wokeness entschlüsseln können. Wer entsprechende Texte schreibt oder konforme Kunst produziert, wird belohnt. Wer eine abweichende Position vertritt, wird hingegen auf Linie gebracht – so stramm, daß er sich irgendwann selbst diszipliniert.
Also vorauseilender Gehorsam?
Voss: Richtig. Denn die Betroffenen passen sich an, obwohl sie gar nicht möchten – weil sie bei jedem Fehltritt beobachtet werden. Auch diese Methode hat Foucault beschrieben und benannt: der „Panoptismus“. Sie geht auf den englischen Philosophen Jeremy Bentham zurück, der im 18. Jahrhundert ein ideales Gefängnis, das Panopticon, entworfen hatte, ein kreisförmiges Gebäude, in dessen Mitte ein Wachtturm steht. Von dort aus können die Wärter die Insassen beobachten. Diese können den Wachtturm aber aufgrund der Ferne und der Dunkelheit nicht sehen und wissen weder, ob sie gesehen werden, noch, wer sie beobachtet. Ergebnis: Sie verkommen zu ihren eigenen Wärtern. Das läßt sich zum Beispiel perfekt auf den digitalen Raum übertragen.
Also auf Kampagnen gegen „abtrünnige“ Prominente im Netz?
Voss: Genau! Eine Aktion des anonymen Mobs reicht bereits, um einige zum Nachgeben zu zwingen – egal, ob es um Gendersprech, „nachhaltigen“ Konsum, Pronomen oder sonstiges politisch korrektes Verhalten geht. Zunehmend schwappt das ins echte Leben rüber. Wir sind an einem Punkt, an dem Leute sogar am Arbeitsplatz nicht mehr der eigenen Moral und Ethik folgen, sondern gesellschaftlich erzwungenen Vorstellungen.
Kennen Sie solche Beispiele auch in Ihrem Umfeld oder von Ihren Lesern?
Voss: Ja, ein Leser hat mir berichtet, daß sein Unternehmen nun „Antidiskriminierungsrichtlinien“ nach US-Vorbild übernimmt und durchsetzt. So bekam er einen Fragebogen zu den neuen Regeln, darunter zum „diskriminierungsfreien“ Umgang mit Frauen und Minderheiten. Nicht selten gab er Antworten an, die im Widerspruch zu seinem Gewissen stehen, aber den Vorgesetzten gefallen könnten. Ich halte das für einen großen Einschnitt ins freie Denken.
Erinnern diese Einschnitte nicht an klassische Diktaturen wie die DDR?
Voss: Der Vergleich hinkt, weil die DDR ein System mit Befehlen „von oben“ war. Heute funktioniert der Druck vielmehr durch „freiwillige“ Anpassungen. Er umfaßt alle Lebensbereiche – Freizeit, Ehrenamt, Schule, Arbeit, Freundeskreis –, aber es gibt nicht „den einen“ Einpeitscher, der vom Bürotisch aus alles kontrolliert. Was für den Erfolg der Wokeness sorgt, ist eine Mischung aus der Anziehungskraft der Ideologie für einige und den von Foucault beschriebenen Mechanismen der Massengesellschaft.
Aber wie kommen Sie ausgerechnet auf Foucault? Gilt er nicht als „Säulenheiliger“ der Woken?
Voss: Genau das macht ihn interessant! Seine Theorien wurden zunächst nach Amerika exportiert und in den Neunzigern in die Wissenschaftszweige umgewandelt, die heute den Diskurs bestimmen, darunter Gender Studies und postkoloniale Theorie. Ich wollte schauen, ob das, was heute in seinem Namen fabriziert wird, mit seinen ursprünglichen Ideen übereinstimmt.
Und was kam dabei heraus?
Voss: Ich mußte feststellen, daß Foucault wirklich gut die Wirkung der Macht im kleinen beschreibt. Die Woken haben seine Beobachtungen als Anleitung zur Machtübernahme gelesen, obwohl er eigentlich machtkritisch war – um so besser eignet er sich, um ihre Methoden zu entlarven. Ich fand es reizvoll, die Woken mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
Sie sagten bereits, Ihre Generation spricht zuwenig über relevante Probleme wie die Krise der Familie. Was müßte sie noch thematisieren?
Voss: Da sehe ich einen großen Konflikt der liberalen Gesellschaft mit dem Islam, der ununterbrochen an Einfluß gewinnt. In meiner Generation prägt er bereits das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Zudem erleben wir, wie Islamwissenschaftler, die sich zu den patriarchalen Strukturen dieser Religion oder zum Islamismus äußern, denunziert werden.
„Patriarchal“ klingt aber nach linker, wenn nicht sogar woker Sprache.
Voss: Also kommen Sie! Nicht alles, was die Linken erkämpft haben, war schlecht, zum Beispiel die Arbeitnehmerrechte. Und es ist nicht zwingend links, geschweige denn woke, die Rolle der Frau im Islam zu kritisieren.
Allerdings werfen Sie den Woken auch vor, sich im Alltag nicht an ihre Ideale zu halten, sondern konservativ zu leben. Ist das nicht die falsche Strategie?
Voss: Das mache ich ihnen nicht zum Vorwurf – im Gegenteil, ich finde eine konservative Lebensweise gut! Viele Linke stehen jedoch nicht dazu, wie konservativ sie eigentlich sind, sondern offenbaren es nur verkappt, etwa durch bürgerliche Statussymbole, die sie stolz präsentieren, oder ein verstecktes rückschrittliches Frauenbild. Es ist die Doppelmoral, die mich stört.
Ist Doppelmoral nicht besser als keine Moral?
Voss: Natürlich nicht. Wer seine Wertemaßstäbe nicht konsequent anwendet, hat keine.
Pauline Voss ist „Chefreporterin Debatte“ beim Nachrichtenportal „Nius“, zuvor volontierte die 1993 in Frankfurt am Main geborene Journalistin bei der Neuen Zürcher Zeitung. Der österreichische Kurier bescheingt ihr mit dem Buch „Generation Krokodilstränen. Über die Machttechniken der Wokeness“ mit „intellektueller Schärfe den Finger auf den zeitgeistigen Aberwitz zu legen“. Der Schweizer Tagesanzeiger lobt es als „theoretisch stringent und sprachlich elegant – ein Text wie eine Peitsche“.
Kritikerin Voss: „Ich glaube, meiner Generation fehlt es an Halt und Stabilität. Das bringt eine innere Leere, die die Wokeness füllt, die einer Religion ähnelt: Dogmen, Reinheitsgefühle, Bußrituale“