Ist ein Tabubruch erneut tabu? Weder in Thüringen noch in Sachsen denkt die CDU an eine Zusammenarbeit mit der AfD, dem Wahlsieger bei den Landtagswahlen. Trotz rechter Mehrheiten soll links regiert werden. Das Brandmauer-Kombinat aus CDU, SPD, BSW und Linkspartei will die Macht unter sich aufteilen. Wählerwille? Nein danke. „Die Dinge sind im Fluß“, orakelt CDU-Chef Friedrich Merz. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) traf sich zu Wochenbeginn mit BSW-Chefin Sahra Wagenknecht.
Im thüringischen Landtag ist die Lage besonders vertrackt. Einem Bündnis aus CDU, BSW und SPD fehlt eine Stimme zur absoluten Mehrheit. Die CDU schielt erwartungsgemäß nach links, Noch-Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) lockte bereits: „Ich bleibe bei meinem Angebot, einer Regierung ohne AfD-Beteiligung zur Mehrheit zu verhelfen“. Das wäre ein Allparteienbündnis unter Einschluß der SED-Nachfolger. Die Brandmauer würde eingerissen. Nach links. Ob die CDU stattdessen eine Minderheitsregierung wagt, ist derzeit unwahrscheinlich. Obwohl ihre inhaltlichen Positionen in einer Anti-AfD-Koalition verwässert würden.
Nach seinem Pyrrhussieg stellt sich CDU-Landeschef Mario Voigt auf langwierige Gespräche mit der Wagenknecht-Partei ein. Größtes Hindernis scheint in der möglichen Landeskoalition die Außenpolitik zu sein. Wagenknecht pocht unablässig auf entsprechende Festlegungen im Koalitionsvertrag. In der Union wird vermutet, dahinter stecke ihr Ehemann und Mentor Oskar Lafontaine, der als SPD- und späterer Linken-Vorsitzender dezidiert amerikakritische Positionen vertreten hatte. BSW-Co-Chefin Sevim Dagdelen will dem Bundesrat, der Länderkammer, eine außenpolitische Stimme geben. „Was spricht dagegen, daß sich der Bundesrat mit den deutsch-ukrainischen Beziehungen, Stichwort Waffenlieferungen, oder mit den deutsch-amerikanischen Beziehungen im Hinblick auf die US-Raketenstationierungen befaßt?“
In der Union formieren sich die Wagenknecht-Gegner
Für die Union gehöre die Nato-Mitgliedschaft und das transatlantische Verhältnis zu den USA zur DNA ihrer Politik, mahnte bereits eine Gruppe von knapp hundert CDU-Mitgliedern, darunter der einflußreiche Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, der stellvertretende Vorsitzende des Arbeitnehmerflügels, Dennis Radtke, und der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz. Neben diesen innerparteilich eher mitte-links verorteten Christdemokraten haben sich – eine ungewöhnliche und bemerkenswerte Allianz – auch im konservativeren Lager die Wagenknecht-Gegner formiert. Einem für den kommenden Parteitag einzureichenden Basis-Antrag unter dem Motto „Keine CDU-Koalition mit dem BSW in Thüringen und Sachsen“ haben sich bereits kurz nach Freischaltung knapp 1.500 Unterstützer angeschlossen. „Die CDU steht für Westbindung und die soziale Marktwirtschaft. Mit kommunistischen Gegnern des Westens können wir nicht regieren“, so Initiator Oliver Häusler. Die Antragsteller sprechen sich stattdessen für eine Minderheitsregierung oder den Gang in die Opposition aus.
Doch Fraktionschef Friedrich Merz will offenbar das Risiko von BSW-Koalitionen eingehen, verlangte in der jüngsten Fraktionssitzung, den Verhandlern „keine Ratschläge von der Seitenlinie“ zu geben. Beinfreiheit für Voigt und Kretschmer. Der CDU-Vorsitzende will seine Position als nächster Kanzlerkandidat gegenüber Markus Söder stärken, den ihm lästigen CSU-Vorsitzenden. Und Voigt kann es gar nicht erwarten, Ramelow zu beerben. Voigts Drang in die Erfurter Staatskanzlei trifft sich also mit Merz’ Interesse an innerparteilichen Erfolgen. Die Zahl der Unions-Ministerpräsidenten würde sich auf acht von 16 erhöhen. Für diese Woche waren zunächst „Optionsgespräche“ geplant. Danach Sondierungsgespräche, anschließend Koalitionsverhandlungen mit der Folge, daß der Wahlsieger AfD die einzige Oppositionsfraktion wäre? Ein Kurs, der in der CDU-Fraktion nicht unumstritten ist.
Als stärkste Fraktion hatte die AfD CDU und BSW bereits in der vergangenen Woche zu Gesprächen eingeladen. Zu Wochenbeginn lag eine Antwort der CDU noch nicht vor, das BSW schickte eine Absage. Öffentlich hat sich in der CDU bisher nur die neu gewählte Parlamentarierin Martina Schweinsburg (siehe Porträt Seite 3) für Gespräche mit der AfD ausgesprochen. Brandmauer? Hat sich in Thüringen erledigt. Stichwort Sperrminorität. Mit 32,8 Prozent verfügt die AfD über ein Drittel aller Sitze, das heißt keine Verfassungsänderung, keine Wahl von Verfassungsrichtern, keine Auflösung des Landtags ohne Zustimmung der AfD.
Spannend dürfte es schon bald bei der Wahl des Landtagspräsidenten werden. Als stärkste Fraktion hat die AfD das Vorschlagsrecht. Fällt ihr Kandidat in zwei Wahlgängen durch, wird es kompliziert. Der Ältestenrat des Landtags hatte sich darauf verständigt, daß ab dem dritten Wahlgang auch Bewerber aus den anderen Fraktionen kandidieren können. Wird erneut keine Mehrheit erreicht, kommt es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten, die zuvor die meisten Stimmen erhalten hatten.
Da die Geschäftsordnung das Verfahren nicht eindeutig regelt, könnte der Alterspräsident als Sitzungsleiter entscheiden, wie diese konkret auszulegen ist. Alterspräsident ist zum Ärger des Anti-AfD-Blocks ausgerechnet der 73jährige Jürgen Treutler (AfD), direkt gewählt im Wahlkreis Sonneberg. Das „an Jahren älteste“ Mitglied eröffnet die konstituierende Sitzung, die spätestens am 1. Oktober stattfinden muß. Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Torben Braga, hat bereits erklärt, seine Fraktion werde auf ihren Rechten bestehen. Rechtliche Probleme sind auch bei der Wahl des Ministerpräsidenten programmiert, die aber an keine zeitlichen Fristen gebunden ist. Die Folge: Ramelow könnte noch einige Zeit im Amt bleiben.
Einen Schritt weiter in Richtung Koalition ist man in Sachsen. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat sich zu Wochenbeginn mit BSW-Chefin Wagenknecht getroffen um „Möglichkeiten einer konstruktiven politischen Zusammenarbeit auszuloten“. „Die Zeiten vom Politbüro sind vorbei, wo jemand in Berlin entscheiden konnte, was vor Ort passiert“, hatte der CDU-Mann noch kürzlich kritisiert. Gespräche zwischen CDU und BSW sind verabredet. Da Kretschmer eine Minderheitsregierung ablehnt und auch die Brandmauer zur AfD nicht in Frage stellt, ist er auf das BSW angewiesen. Außerdem braucht er entweder die SPD oder die Grünen. Anders als die CDU in Thüringen kann die Sachsen-CDU die Linke links liegenlassen.
Noch unklar ist, ob die AfD wie in Thüringen Verhandlungsmacht per Sperrminorität hat. Diese war ihr zunächst zugestanden, kurz darauf nach einer Neuberechnung der Mandate wieder aberkannt worden. Möglicherweise wird der parteilose, auf der Liste der Freien Wähler (FW) gewählte Oberbürgermeister von Grimma, Matthias Berger, zum Zünglein an der Waage. Er hat aber noch nicht entschieden, ob er sein Landtagsmandat annimmt, sich aber klar gegen ein Bündnis der CDU mit dem BSW und für eine Minderheitsregierung unter Tolerierung der AfD positioniert. „Dieses ganze AfD-Bashing ist schlechter Stil.“
Und die eindeutigen Wahlverlierer, die Ampelparteien? Die SPD-Führung freut sich, daß sie noch einmal mit blauem Auge davon gekommen ist, die Fünf-Prozent-Hürde knapp geschafft hat und damit ihre Regierungsbeteiligungen wohl gesichert hat. Die Grünen fliegen aus dem Erfurter Landtag und mutmaßlich aus zwei Landesregierungen. Und die FDP? Die Liberalen verfehlten in Sachsen mit peinlichen 0,9 Prozent die staatliche Erstattung der Wahlkampfkosten, die es erst mit einem Prozent gibt. 500.000 Euro soll der Wahlkampf gekostet haben. Eine Katastrophe für die Liberalen.
Foto: Sichtbar gewordene Brandmauern nach einem Hausabriß in Berlin: Den Verhandlern in Thüringen und Sachsen „keine Ratschläge von der Seitenlinie“ geben