Sehr geehrter Herr Madison, wie bewerten Sie den ukrainischen Vorstoß in das russische Gebiet Kursk? Welche Ziele verfolgt die Ukraine?“
Jaak Madison: Da Rußland einen Krieg gegen die Ukraine begonnen und Kriegsverbrechen begangen hat, muß Moskau zwangsläufig berücksichtigen, daß die Ukraine nach internationalem Recht auch das Recht hat, Ziele in Rußland zum Zwecke der Selbstverteidigung anzugreifen und russisches Territorium zu besetzen, um Rußland zu zwingen, seine Aggression gegen die Ukraine zu beenden.
„Wir müssen der Ukraine alles geben, was sie braucht, um Widerstand zu leisten und zu gewinnen“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach ihrer Wahl. Ihre Meinung dazu?
Madison: Als Abgeordneter des Europäischen Parlaments, der Estland vertritt, kann ich nur sagen, daß wir gegen die Schaffung von Einfluß- und Pufferzonen, insbesondere in Europa sind. Der Krieg in der Ukraine betrifft Estland aufgrund unserer gemeinsamen Grenze mit Rußland und der Existenz russischer außenpolitischer Interessen in unserer Region. Insofern betrachte ich Äußerungen, die die Ukraine auf ihrem Weg, für ihre Souveränität zu kämpfen, unterstützen, als positiv. Wie die Ereignisse seit 2014 gezeigt haben, hat die Ukraine einen Weg zur europäischen Integration bevorzugt. Auch die Bedingungen, unter denen die Ukraine den Krieg beenden wird, bleiben ihr überlassen.
Van der Leyen kritisierte Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán für seine Friedensmission und bezeichnete sie als Akt der Beschwichtigung. Was halten Sie von seinen Reisen nach Kiew, Moskau und Peking?
Madison: Erstens hat von der Leyen den französischen Präsidenten Macron noch nicht für seine Verhandlungsversuche mit Putin zu Beginn der Invasion 2022 kritisiert. Insofern scheint es sich weniger um eine Frage des Prinzips oder der Strategie zu handeln, sondern eher um einen weiteren politischen Schachzug gegen einen ideologischen Gegner, der Orbán für von der Leyen ist. Zusätzlich zum Besuch des chinesischen Präsidenten zusammen mit Macron im Jahr 2023. Aber selbst wenn wir sagen würden, daß es Unterschiede zwischen den Verhandlungen im Jahr 2022 und 2024 gibt, ist Orbán der gewählte Ministerpräsident Ungarns, mit einem Mandat des Volkes. So wie Estland eine eigene Außenpolitik hat oder zumindest haben sollte, die sich nicht nach den Vorgaben der Kommission richtet, hat Ungarn ein Recht darauf. Ob wir mit den konkreten Schritten einverstanden sind oder nicht. Wenn wir Ungarn dazu zwingen würden, seine eigene Außenpolitik aufzugeben, könnte es sein, daß Estland eines Tages eine andere Meinung vertritt als der Rest der EU, und die gleiche Taktik könnte auch bei uns angewendet werden. Obwohl das EU-Parlament Orbán dafür kritisiert hat, daß er aufgrund der ungarischen Ratspräsidentschaft versucht habe, den Block als Ganzes zu vertreten, hat Orbán eine solche Vertretung nicht beansprucht.
Ist ein Frieden möglich?
Madison: Gegenwärtig scheint Rußland nicht an Friedensverhandlungen interessiert zu sein, vor allem dann nicht, wenn diese die Räumung der Ukraine fordern. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß das Budapester Memorandum von 1994, das in Ungarn geschlossen wurde, die territoriale Integrität der Ukraine im Gegenzug für den Verzicht auf ihre Atomwaffen garantieren sollte. Einer der Unterzeichner war Rußland. Die Mission könnte also dazu beitragen, die russische Führung in dem Glauben zu bestärken, daß die Führer des Westens bereit sind, die Neuziehung der Grenzen in Eu-ropa mit militärischer Gewalt zu akzeptieren, um wirtschaftliche Verluste zu vermeiden.
„Es fließen unglaubliche Mengen an Geld in die Ukraine. Geld, das für die Bauern, für den Übergang zur Elektromobilität, für die Infrastruktur fehlt“, kritisierte Orbán. Eine Minderheitenmeinung in der EU?
Madison: Um einen Konflikt von estnischem Boden fernzuhalten, helfen die Investitionen in der Ukraine derzeit natürlich mehr. Das soll nicht heißen, daß jede Kritik an den Beträgen oder Mitteln zur Unterstützung der Ukraine der Sache abträglich ist. Wir wissen um die Probleme mit der Korruption in der Ukraine, und sogar eine estnische Premierministerin der Regierungskoalition ist zurückgetreten, weil ihre NGO in der Ukraine nicht gerade glaubwürdige Partner hatte. Natürlich können wir der Ukraine nicht nachhaltig helfen, wenn wir nicht über eine europäische Produktions- und Wirtschaftsbasis verfügen, von der aus wir Ressourcen gemeinsam nutzen können. Wenn überhaupt, dann sollten wir uns mehr auf die europäische Rüstungsentwicklung und -produktion konzentrieren als auf Direktzahlungen oder Darlehen. Wir setzen uns im EU-Parlament für eine rasche Lösung des Konflikts ein und versuchen gleichzeitig, die ukrainischen Opfer zu minimieren und das wirtschaftliche und soziale Potential des Landes für die Zukunft zu erhalten. Das derzeitige Niveau der finanziellen Hilfe kann bei Bedarf reduziert werden, wobei der Ersatz aus der Militärhilfe kommt.
Welche Rolle spielt China im Ukraine-Krieg?
Madison: Es scheint, daß China dem Krieg stillschweigend zugestimmt hat. Es ist unwahrscheinlich, daß Rußland seine Pläne im Jahr 2022 aufgegeben hätte, wenn China sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen hätte, aber langfristig hätte es eine abschreckende Wirkung, wenn China sich den Sanktionen anschließen würde, denn derzeit erreichen die russisch-chinesischen Handelswerte jedes Jahr neue Rekorde.
Wie ist die Stimmung in Estland in bezug auf den Krieg in der Ukraine?
Madison: Estland gehört zu den Spitzenreitern der Nato, wenn es um die Höhe der Verteidigungsausgaben geht, denn seit dem Abkommen wird das vereinbarte Ziel von zwei Prozent des BIP für die Verteidigung ausgegeben. Wir haben eine obligatorische Wehrpflicht und eine auf Freiwilligen basierende Verteidigungsarmee. Natürlich sind wir aufgrund der Größe des Landes auf Verbündete angewiesen, darunter auch Deutschland. Wir sind auch dankbar für die deutsche Battlegroup im Baltikum. Deshalb ist die Stimmung so ruhig, wie es unter diesen Umständen nur sein kann. Natürlich waren sowohl bei der Wahl zum EU-Parlament in diesem Jahr als auch bei den Wahlen zum estnischen Parlament im vergangenen Jahr die Außen- und Verteidigungspolitik Hauptthemen. Das Thema ist also definitiv in den Köpfen der Menschen präsent und wird es auch bleiben, bis die Feindseligkeiten konkret eingestellt werden, aber das ist verständlich.
Ziehen die drei baltischen Staaten in der Frage des Ukraine-Krieges an einem Strang? Oder gibt es Differenzen?
Madison: Ja, trotz der möglichen Unterschiede in der politischen Ausrichtung der Koalitionen geht die Außenpolitik in die gleiche Richtung. Ein Beispiel dafür ist die Vereinbarung über die baltische Verteidigungslinie aus diesem Jahr, die von den Verteidigungsministern aller drei Länder unterzeichnet wurde, oder der gemeinsame Besuch der Präsidenten in Kiew im Jahr 2022.
Jaak Madison ist seit 2019 estnischer Abgeordneter im EU-Parlament. Nach der EU-Wahl verließ er die EKRE-Partei und schloß sich der Zentrumspartei an.