Vor nicht allzu langer Zeit galt noch das Klischee von Irland als „der treuesten Tochter der Katholischen Kirche“. Doch innerhalb der letzten Jahrzehnte wurde das Land von einem Wandel erfaßt, der einst uneinnehmbar erscheinende Machtbastionen der Kirche bis auf den Grund schleifte. Die neueste Runde in diesem für die irische Gesellschaft zuweilen schmerzvollen Säkularisierungsprozeß erfolgte in der vergangenen Woche mit der Veröffentlichung eines umfassenden Untersuchungsberichtes über weit verbreiteten sexuellen Mißbrauch in Bildungseinrichtungen kirchlicher Organisationen.
Traditionell ist in Irland das Erziehungswesen seit jeher in der Hand kirchlicher Träger gewesen. Staatlich finanzierte Schulen unter der Führung von Laien gibt es bislang kaum. Für den chronisch klammen Staat war dies eine günstige Lösung. Doch was innerhalb der Schulen vor sich ging, interessierte die Behörden weniger.
Den Stein ins Rollen brachten die Gebrüder David und Mark Ryan, als sie im November 2022 in einer Fernsehdokumentation mit ihren Erlebnissen an dem vom Orden der Spiritaner geführten Blackrock College an die Öffentlichkeit traten, einer weiterführenden Jungen-Schule im gleichnamigen Vorort südlich von Dublin. Nach seiner Ausstrahlung meldeten sich weitere hundert Opfer. Der Orden gab zu, bereits seit 2004 mehrere Millionen Euro an Entschädigungszahlungen geleistet zu haben. Die Regierung versprach, in einem Bericht weitere Aufklärung zu leisten.
Die nun in dem offiziellen Bericht aufgeführten Zahlen haben es in sich: 2.395 Mißbrauchsanschuldigungen, hauptsächlich von Männern, entfallen auf 884 mutmaßliche Täter, zurückgehend bis in die 1960er Jahre. Untersucht wurden 308 Schulen, die von 42 religiösen Gemeinschaften geführt werden. Insgesamt betreiben in Irland 69 Orden Schulen in eigener Trägerschaft. Immerhin ein Viertel der Anschuldigungen entfallen auf Schulen für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf. Es wird von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen.
Die Aufklärungsarbeit
soll fortgesetzt werden
Die Beschreibungen der Opfererlebnisse eröffnen eine düstere Perspektive. So wurden sie „belästigt, nackt ausgezogen, vergewaltigt und unter Drogen gesetzt, in einer Atmosphäre des Terrors und der Stille“ mit lebenslangen traumatischen Folgen. Für viele von ihnen habe die Kindheit an dem Tag geendet, als der Mißbrauch begann.
Die Aufklärungsarbeit soll fortgesetzt werden. Bildungsministerin Norma Foley nahm die Empfehlung des Berichtes nach einer Entschädigung für die Opfer positiv auf. Ebenso wurde die Forderung erhoben, die Untersuchung auf nicht-konfessionelle Träger auszuweiten.
Für John McManus, Kolumnist der Irish Times, der selbst Ende der 1970er Jahre auf das Blackrock College ging, gleichwohl ohne selbst Betroffener sexuellen Mißbrauchs dort geworden zu sein, öffnen sich für den Orden der Spiritaner, der in Deutschland das Heilig-Geist-Gymnasium in Würselen betreibt, bei weiteren Untersuchungen unangenehme Aussichten: „Es wird aufschlußreich sein, ob das Blackrock College in bezug auf das Ausmaß des Mißbrauchs weiterhin ein Ausreißer bleibt, wenn die Kommission ihre Arbeit beendet. Wenn dies der Fall ist, müssen sich alle mit der Schule verbundenen Personen mit der Vorstellung auseinandersetzen, daß die Spiritaner und die von ihnen geleiteten Institutionen etwas ungewöhnlich Grausames an sich hatten.“