Steter Tropfen höhlt den Stein: Zum 150. Geburtstag des englischen Schriftstellers G. K. Chesterton würdigte Matthias Matussek in dieser Zeitung dessen „unnachahmliche Mischung aus polemischem Witz und dem Tiefenrauschen seiner Gläubigkeit“ (JF 22/24). Und machte damit Lust auf Wiederentdeckung.
Also dann, frisch gefragt: Warum eigentlich sich der Mühe des Parlamentarismus unterwerfen? Selbst in demokratischen Systemen ist es nie gewiß, daß jene politische Ausrichtung, die die meisten Wähler auf sich vereint, die Regierung bilden (darf). Wie aktuell allenthalben zu beobachten ist.
Gilbert Keith Chesterton, 1874 in London geboren, der brillante britische Autor von humorvoll-querdenkerischer Gläubigkeit, bekannte einmal: „Meine Ideale habe ich ganz und gar nicht verloren, eingebüßt habe ich nur meinen kindlichen Glauben an den Parlamentarismus.“ Demokratie stütze sich auf die robusten Instinkte des einfachen Mannes, mithin auf den gesunden Menschenverstand – nicht aber auf die Überspanntheiten von Intellektuellen. Doch: „Solange der Witz Mutterwitz ist, kann er Kapriolen schlagen, so viele er will.“
Kapriolen schlägt auch der Humor (wenn auch nicht zwingend der Mutterwitz) in Chestertons „The Napoleon of Notting Hill“ (dt.: Der Held von Notting Hill) und verursacht dabei gänzlich unerwartete Folgen. Der 1904 erstmals erschienene Roman, Chestertons literarisches Debüt, gehört im Grunde genommen zum Genre der Phantastischen Literatur, ja der Science-fiction, spielt er doch im Jahr 1984. Ein Jahr, das die heutige Leserschaft mit George Orwells gleichnamigem Roman verbindet, dessen dystopischer Zukunftsentwurf in zahlreichen Elementen prophetische Züge aufweist.
„Niemand kümmerte sich um die Regiererei der regierenden Klasse“
Allerdings: Das 20. Jahrhundert war voller Propheten, so Chesterton im prologartigen Eingangskapitel zu „The Napoleon of Notting Hill“: Sie griffen die eine oder andere Tendenz auf und behaupteten, sie werde sich verstärken, bis ein außerordentlicher Umschlag stattfinden würde. Und natürlich widersprachen sie einander fortlaufend. Die Menschen allerdings taten weiterhin, was sie wollten. Das Volk glaube zwar an Evolution, habe aber das Vertrauen in Revolutionen völlig verloren. Diese seien stets auf bloße Theorie aufgebaut und würden alsbald doktrinär: „Denn es leuchtet dem gesunden Menschenverstand ein, daß man nicht alles Existierende, wie Gebräuche und Kompromisse, umstoßen kann, wenn man nicht an etwas glaubt, das außerhalb ihrer liegt, an etwas Positives und Göttliches.“
In Chestertons London von 1984 hat sich wenig verändert. Es gibt keine sich selbst steuernden Fahrzeuge, alternativen Energiequellen oder qua Algorithmen empfindenden Automaten; auch sind weiterhin Gehröcke und Zylinder en vogue. Doch die „Demokratie war tot, denn niemand kümmerte sich um die Regiererei der regierenden Klasse“. Und so wird im London der Zukunft das Staatsoberhaupt, der König, durch ein Lotterieverfahren bestimmt. Ein Vabanquespiel, vielleicht, aber nach Ansicht ihrer Befürworter die reinste Demokratie in Form der von jedem System klammheimlich angestrebten „glanzlosen, populären Despotie ohne Illusionen“.
Bis das Los den Büroangestellten Auberon Quin trifft, ein Mann von geringer Körpergröße und mit runden Augen in einem runden Kopf, was ihm ein Aussehen zwischen Baby und Eule verleiht. Dessen vordringlichstes Interesse gilt dem widersinnigen Scherz und einem bisweilen enigmatischen Humor; selbst seine Berufung zum König nimmt er auf dem Kopf stehend entgegen.
Als erste Amtshandlung verfügt das frisch ernannte Staatsoberhaupt, daß sich die Bezirke Londons zu einzelnen Kleinststaaten ausbauen sollen, jeweils geschützt von Mauern und Toren. Ein von des Königs Hand detailliert ausgefertigtes Regelwerk verpflichtet die Repräsentanten dieser Bezirksstaaten, sich nach ausgefeiltem Protokoll und in phantasievoller, mit bunter Heraldik versehener Kleidung zu bewegen; stets umgeben von einem Troß aus Bannerträgern sowie einer waffenbewehrten Garde – ein mittelalterlicher Karneval, der die Bürgermeister bis auf dem Weg zum Briefkasten begleitet. Ein grandioser Spaß, wenn auch nur für König Auberon.
Eine absurde Farce führt zu einem blutigen Krieg
So gehen Jahre ins Land. Widerwillig fügen sich die Bürgermeister des Königs Gebot, führen ihre Geschäfte und zukunftsweisenden Projekte jedoch weiter; sie sind es, die in Form des Apparats die Politik der Stadt tatsächlich leiten. Seit Jahren arbeiten sie mit vereinten Kräften an einer großen Magistrale, der zahlreiche Straßen und Gebäude weichen müssen, was nicht zuletzt durch finanzielle Überzeugungskunst bisher auch gelang. Bisher.
Auftritt Adam Wayne: Der junge Bürgermeister von Notting Hill wuchs mit dem Glauben an den vom König als Scherz aufgebauten Bezirks-Patriotismus auf. Tatsächlich war er es gewesen, der einst mit kindlichem Idealismus den König dazu inspirierte, „die Anmaßung und den Hochmut der mittelalterlichen Städte“ (Auberon) wieder aufleben zu lassen. Nun kämpft der hoch aufgeschossene junge Mann gegen die Magistrale und für den Erhalt der Pump Street; für die einen eine ärmliche Gasse in einem unbedeutend kleinen Reich – für Wayne ein unschätzbares Märchenland: „Für diesen Mann war das Unvorstellbare geschehen. Die künstliche Stadt war für ihn zur Natur geworden, und er empfand die Bordsteine und Gaslaternen als Dinge, die so alt waren wie der Himmel.“ Wayne verachtet die „Stille der Moderne“ mit ihrer vorgetäuschten Liberalität der freien Rede, die aber strikten Regelungen unterliege. Etwas müsse die Gleichgültigkeit, den Egoismus und die „seltsame Verlassenheit unter einer Menge von Millionen“ beenden.
Weder Geld noch Argumente können Wayne daher zur Kooperation überreden, vielmehr überzeugt er seine Bürger, mit Waffengewalt für ihre Gasse zu kämpfen – und so gebiert eine absurde Farce einen Krieg. Ein Krieg, putzig und blutig zugleich, bei dem Notting Hill gegen die Übermacht ganz Londons siegt – und der dennoch nicht zum Happy-End führt.
Wie so oft sind Chestertons Figuren auch hier Helden, die für eine Idee streiten – mögen sie für andere auch noch so absurd erscheinen, mögen sich die Helden auch noch so lächerlich machen.
„The Napoleon of Notting Hill“ verdeutlicht zugleich die Notwendigkeit, daß diese Helden einen Antagonisten finden müssen: hier der humoristische, alles als kunstvolles Spiel begreifende Auberon, dort der inbrünstig-patriotische Wayne mit seinem Hang zum Fanatismus.
Zunächst glaubt Auberon, in Wayne einen Bruder im spielerischen Geiste gefunden zu haben, doch weit gefehlt: „Gott, was habe ich getan?“, fragt der König verzweifelt. „Ich glaubte Spaß zu machen und habe Leidenschaften erzeugt. Was soll man in einer solchen Welt anfangen? War mein Spaß denn nicht grob und kühn genug?“ Und kommt zu einer weisen Einsicht: „Verrückte sind immer ernst; sie werden verrückt aus Mangel an Humor.“
Ein sinnvolles Miteinander findet sich in einer Zusammenarbeit
Doch auch Wayne, inzwischen Kaiser von Notting Hill, wird am Ende weiser und hadert mit den Geistern, die er rief. Längst ist auch die Bevölkerung seines Reiches doktrinär geworden und will alle anderen Bürger Londons regieren und erziehen. Nach einer letzten Schlacht bekennt Wayne gegenüber Auberon: „Wenn dunkle und trübe Tage kommen, dann sind wir beide vonnöten, du, der reine Satiriker, und ich, der reine Fanatiker. Denn wir sind das Wesentliche in der Welt.“
Auberon und Wayne bilden zwei Pole, um die sich die Ereignisse, aber auch die Bürger Londons sammeln. Eine Wahrheit, oder doch zumindest ein sinnvolles Leben und Miteinander findet sich allerdings am ehesten in einer Zusammenarbeit zwischen beiden Polen. Ein schönes Bild für die Demokratie. Wie es mit dieser heute, vierzig Jahre nach Chestertons 1984, bestellt ist, mag jeder selbst für sich entscheiden.
„The Napoleon of Notting Hill“ ist ein Roman über Sinn und Unsinn, Zynismus und Glauben. Darüber hinaus enthält der schmale Band ein Feuerwerk an Gedanken über Literaturkritik und Kriegsberichterstattung, Patriotismus und Weltbürgertum. Als Science-fiction bietet er keine staunenswerten Neuerungen – denn im Grunde bleibt sich die „menschliche Rasse“ doch stets gleich. Staunenswert ist allein, wie aktuell Chestertons Prämissen und Prognosen auch heute noch sind. Und voraussichtlich bleiben werden. Ein Lesevergnügen voller Polemik, Mutterwitz – und unbestechlicher Einsicht in die menschliche Natur.
G. K. Chesterton: Der Held von Notting Hill. Phantastischer Roman. Suhrkamp, 1985, broschiert, 200 Seiten, nur noch antiquarisch zum Beispiel bei Amazon oder zvab.com erhältlich
Gilbert Keith Chesterton (1874–1938), hier in einer Karikatur von „Strickland“ in der Zeitschrift „Vanity Fair“, 1912