© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/24 / 13. September 2024

Wir fahr’n nach Lodz
Kino II: Der deutschen Regisseurin Julia von Heinz gelingt mit „Treasure“ ein einfühlsames Exiljuden-Porträt
Dietmar Mehrens

Edek, wir fahr’n nach Lodz!“ könnte man in Abwandlung des berühmten Vicky-Leandros-Schlagers zum neuen Film der Regisseurin Julia von Heinz sagen. Sowohl der Inhalt als auch der leicht ironische Grundton des Liedes passen zum Film der bekehrten Antifa-Aktivistin, die mit „Und morgen die ganze Welt“ schonungslos mit dem linksextremistischen Milieu abrechnete (JF 45/20) und als Lohn dafür um ein Haar ins Rennen um den Oscar für den besten nichtenglischsprachigen Film gegangen wäre.

Kein Theo, sondern ein Edek, Edek Rothwax (Stephen Fry), steht also im Mittelpunkt dieser Tragikomödie, und nach Lodz sowie nach Warschau und Krakau geht es, weil Edek ein polnischer Jude ist, der das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebte. Nach den Schrecken der NS-Herrschaft emigrierte er mit seiner Frau, die ebenfalls eine Überlebende des NS-Völkermordes ist, nach New York. Aber mit Töchterchen Ruthie haben beide nie über das überstandene Grauen gesprochen. Dabei hat Ruth als Kind mitbekommen, wie ihre Mutter Nacht für Nacht im Schlaf Schreie ausstieß. Ihr wurde klar: Es gibt da ein gut gehütetes Familiengeheimnis, das ihr Leben prägte, ohne daß sie in der Lage gewesen wäre, es zu lüften.

Vater und Tochter auf den Spuren der Familienhistorie

Nachdem Ruth Rothwax (Lena Dunham), inzwischen 36 Jahre alt, sich von ihrem Ehemann Garth getrennt hat, reift in ihr der Entschluß zu einer Spurensuche im Land ihrer Vorfahren. Gerade ist der Eiserne Vorhang gefallen. Die Gelegenheit ist also günstig. Als ihr Vater von der geplanten Polenreise Wind bekommt, klinkt er sich kurzerhand ein, und das ganze Projekt wird zu einer Vater-Tochter-Gemeinschaftsaktion. Auch wenn die im Original von ihrem Vater stur und gegen ihren Willen „Pumpkin“, also „Kürbis“, genannte Ruth zuweilen von dem Gefühl geplagt wird, daß Edek ihre Expedition in die eigene Familienhistorie gekapert hat, freut sie sich doch darüber, daß sie endlich sein darf, was sie so lange, zumindest gefühlt, nicht war: Teil seines Lebens.

Sie besuchen das Chopin-Haus des Warschauer Museums und suchen nach Spuren des von den Nationalsozialisten zerstörten Ghettos. In Lodz suchen sie die inzwischen völlig heruntergekommene Wohnung auf, in der Edek aufwuchs, und sogar Spuren der eigenen Vergangenheit finden sich noch. Ruth wird klar, über was für ein Imperium die Familie Rothwax einst herrschte. Sie betrieb eine Baumwollfabrik mit vierzig Angestellten. Und irgendwo liegt auch der Schatz, dem der in englischer Sprache gedrehte Film seinen Titel verdankt. Von Krakau aus wird schließlich das Todeslager Auschwitz angesteuert. Es wird für Edek Zeit, sich dem lange verdrängten Grauen endlich zu stellen.

Stephen Fry und Lena Dunham sind ein ausgezeichnet funktionierendes Schauspielgespann. Frys Interpretation erinnert an die von Zdenek Sverak in dem Oscar-prämierten tschechischen Film „Kolya“ (1996) über einen Lebemann, der plötzlich Verantwortung übernehmen und dadurch tief in ihm verborgene Gefühle neu entdecken muß. Mit seinem polnischen Akzent und seiner „Geht mich nichts an“-Attitüde sorgt Edek für viele erheiternde Momente. Aber auch die mit der Kult-Serie „Girls“ bekannt gewordene Lena Dunham bildet das Gefühlsspektrum zwischen ernst und heiter souverän ab und hat Mut zur Ironisierung ihrer eigentlich gar nicht lustigen Figur. Die in New York als Journalistin tätige, etwas füllige Ruth ringt nicht nur mit ihrem zuweilen störrischen Vater, sondern auch mit ihrem Selbstbild.

Mit „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ verfilmte Julia von Heinz den Roman „Zu viele Männer“ von Lily Brett über familiäre Wurzeln und Identität. Ein ungleiches Vater-Tochter-Duo, das sich zusammenraufen muß, ist zwar alles andere als cinematographisches Neuland, aber die Kombination des Themas mit dem der Auslöschung des europäischen Judentums verleiht der Tragikomödie einiges an Mehrwert. Als Gewinn erweist sich ferner, daß die Filmemacherin, die schon die Atmosphäre versiffter Autonomen-Wohnquartiere in „Und morgen die ganze Welt“ gekonnt einfing, „Treasure“ im Winter spielen läßt. Eingeschneite Ruinen, matschige Innenhöfe, graue Straßen und kahle Bäume verleihen dem Film genau die Aura von Morbidität, die sowohl das vom Sowjetkommunismus gezeichnete Polen als auch die Erinnerung an die NS-Greuel im passenden Licht erscheinen lassen. So richtig es ist, weder die polnische noch die deutsche Geschichte auf die Ära unterm Hakenkreuz zu reduzieren, so wichtig sind Filme wie dieser, die die Erinnerung an den Irrsinn von damals wachhalten und gleichzeitig Mut machen, „dem Tode keine Herrschaft einzuräumen über seine Gedanken“ (Thomas Mann).

Foto: Edek (Stephen Fry): Mit seiner „Geht mich nichts an“-Attitüde sorgt er für erheiternde Momente

Kinostart ist am 12. September 2024