Einer hat es sein müssen, keiner hat es sein wollen; so habe ich mich dazu hergegeben.“ In dem Dankschreiben an die Gratulanten zu seinem 75. Geburtstag erinnerte Arnold Schönberg an seine Antwort auf die Frage des Stellungskommissärs des k.u.k. Militärs, ob er dieser vielumstrittene Komponist A.S. sei. Dem Kommißkopf war es um die „Zwölftontechnik“ noch gar nicht gegangen, denn diese seine Entdeckung hatte Schönberg selbst erst 1921 seinem Schüler Josef Rufer mitgeteilt und gemeint, damit „die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert“ zu haben.
Dieser Arnold Schönberg, Monarchist und Nationalist, war als Einjährig-Freiwilliger im Ersten Weltkrieg stramm auf seiten Österreichs und Deutschlands gestanden, hatte sogar Otto Kernstocks Schlachtlied „Der Deutsche Michel“ für Männerchor vertont und 1916 für einen Kameradschaftsabend den Marsch „Die eiserne Brigade“ für Klavier und Streichquartett komponiert – nicht „atonal“, und schon gar nicht in „Zwölftontechnik“. Aber was hat es eigentlich mit dieser ominösen „Zwölftontechnik“ auf sich? Und warum hat einer es sein müssen, damit „es“ denn sei?
Uraufführungen lösen veritable Tumulte aus
Schönberg tritt in das Amateurorchester „Polyhymnia“ ein, dessen Dirigent, der Komponist Alexander von Zemlinsky, auf Schönberg aufmerksam wird und Schönberg auf Zemlinskys Schwester Mathilde, die er 1901 heiratet. Zemlinsky gibt Schönberg Kompositionsunterricht und verhilft ihm zur Aufführung seines Ersten Streichquartetts D-Dur im Jahre 1898. Schönberg übernimmt Dirigate beim Mödlinger Gesangsverein „Freisinn“, dem Männergesangsverein Meidling sowie die Chor-meisterstelle des Metallarbeiter-Sängerbunds Stockerau – Tätigkeiten in der und für die Arbeitermusikbewegung, von denen sich der Gefühlssozialist dann im Jahre 1950 in den USA distanzieren zu müssen glaubte. Über Ernst von Wolzogen, für dessen literarisches Kabarett „Übertrettl“ in Berlin er die musikalische Leitung übernimmt, wird er mit Richard Strauss bekannt. Der Großbürger verschafft dem Kleinbürger das Liszt-Stipendium des Allgemeinen Deutschen Musikvereins und eine Lehrerstelle am Sternschen Konservatorium, und er macht ihn auf Maeterlincks „Pelléas et Melisande“ aufmerksam.
Nach Wien kehrt Schönberg 1903 zurück, um eine Stelle an der Schwarzwaldschule anzutreten. Ein Jahr später werden Anton von Webern und Alban Berg seine Privatschüler, andere werden dazukommen, so 1919 der junge Hanns Eisler. Nicht nur, jedoch vor allem diese Namen werden heute allgemein mit der Schönberg-Schule oder Zweiten Wiener Klassik verbunden.
Die Uraufführungen der Kammersinfonie (1907) und der beiden ersten Streichquartette (1907 und 1908) lösen veritable Skandale aus. Spätestens seitdem ist Schönberg bekannt und berüchtigt. Seine Biographie bewegt sich zwischen der Suche nach auskömmlichen Anstellungen, öffentlicher und privater Lehrtätigkeit, Verfolgung seiner künstlerischen Mission und Verwirklichung seiner Vision. Und es scheint, als ob die Zeitläufte Schönberg zwar äußerlich in neue Orte und Beziehungen bestimmen, aber Schönberg in all seinen Schaffensstufen und Wandlungen bestimmt immer Schönberg bleibt, seine Existenz eine ruhmreiche, jedoch immer prekäre.
Er übernimmt eine Dozentur am Sternschen Konservatorium in Berlin, tritt als Dirigent eigener Kompositionen hervor, unternimmt Konzertreisen zur Einstudierung und Überwachung der Aufführung seiner Kompositionen. Er gibt Kompositionskurse, wird als Nachfolger Ferruccio Busonis zum Leiter einer Meisterklasse für Komposition an die Preußische Akademie der Künste zu Berlin berufen. Im Jahre 1933 entlassen, emigriert er über Paris in die USA. Von 1936 bis 1944 bekommt er einen Lehrstuhl an der University of California, 1940 die Staatsbürgerschaft der USA. Nach Emeritierung aus Altersgründen 1944 zwingt ihn seine persönliche Notlage, wieder Privatunterricht zu geben. Schönberg stirbt am 13. Juli 1951 in Los Angeles.
Doch zurück zu den Tumulten der ersten Aufführungen, die sich an Kompositionen in der Nachfolge von Wagner und Brahms entzündeten, die heute wenigen Hörern noch Schwierigkeiten bereiten dürften. Zwar hat sich Schönbergs Prophezeiung, daß die „Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire“ op. 21 in fünfzig Jahren Volkslied werden würden, auch nach bald hundert Jahren nicht erfüllt, doch hält jede Sopranistin, die auf sich hält, den „Pierrot“ oder das Monodram „Erwartung“ im Repertoire, jedes Streichquartett die Schönberg-Quartette, jedes Orchester die Kammersinfonie oder die Sinfonische Dichtung „Pelleas und Melisande“. Und so mancher Dirigentendepp hat sich schon an den „Gurre-Liedern“, Schönbergs hyperromantischem Übergipfel, überhoben.
Die Kompositionen der romantischen und expressionistischen Schaffensphase Schönbergs dürften kaum noch unter das Verdikt der „Kakophonie“ oder der „Atonalität“ fallen; sie haben es im Konzertgeschäft zu durchschlagender Wirkungslosigkeit gebracht. Zeitgenössische Hörer jedoch konnten neue Musik nur in Konzerten oft mangelhafter Qualität hören und nicht beliebig oft, etwa auf Tonträgern, wie heute. Es überrascht daher nicht, daß sie die „Luft von anderen Planeten“, wie es in dem Gedicht von Stefan George heißt, das Schönberg im Schlußsatz des Zweiten Streichquartetts für Sopranstimme vertont hat, zwar durchaus gespürt haben mochten, aber nicht sinnvoll in ihre Hörerfahrung einzuordnen wußten.
Schuld war nur der Richard Wagner! Der berühmte „Tristan“-Akkord, jener Akkord, der sich funktionsharmonisch nicht auflösen läßt – genauer: nach jeder Richtung offen erscheint – und seine Auflösung zum Ende der Oper einem kompositorischen Taschenspielertrick verdankt, er führte in der Konsequenz zu einem Komponieren, bei dem Dissonanzen überhaupt keine Strebewirkungen im herkömmlichen Sinne mehr besitzen. Schönberg hat es als „Emanzipation der Dissonanz“ bezeichnet.
Wenn aber Dissonanzen nicht mehr nach Auflösung in Konsonanzen streben, wohin streben sie dann? Melodik und Harmonik haben keine andere Bindung mehr als die an die chromatische Tonleiter. Jeder musikalische Augenblick bringt den nächsten hervor. Die Logik dieses konsequenten musikalischen Fortschreitens nachzuvollziehen, ohne sich dabei auf ein harmonisches Fundament und auf mit diesem verbundene traditionelle Formen irgend rückversichern zu können, Dissonanz als nur entferntere Konsonanz zu hören, das mußte damalige Hörer überfordern und führte zu den Tumulten während der Aufführungen. Dabei war Schönbergs Komponieren ebensowenig voraussetzungslos, wie es Wagners „Tristan“-Akkord gewesen war. Nach eigener Aussage hatte Schönberg das meiste durch das Studium der großen Komponisten gelernt, vor allem Bach, Mozart, Brahms und Wagner – und Mahler. In seiner „Harmonielehre“, zuerst 1911 und in dritter Auflage 1921 erschienen, hat er vornehmlich mit Beispielen der großen Vorläufer Rechenschaft über das eigene Tun abgelegt und sich rechtens in deren Tradition gestellt.
Komponieren mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen
Die hier skizzierte Entwicklung läßt ein Verfahren zur Neuorganisation der Tonverhältnisse, das Faßlichkeit und Geschlossenheit neu herstellt, nur folgerichtig erscheinen. Schönberg fand es – wie vor ihm schon Josef Matthias Hauer! – in der „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“: Jeder Ton der chromatischen Tonleiter darf nur einmal und erst dann wieder verwendet werden, wenn alle Töne der Grundreihe einmal erklungen sind. Die Grundreihe selbst kann umgekehrt (Spiegel), rückwärts (Krebs) und auch diese Reihe wieder umgekehrt (Umkehrung des Krebses) und alle Reihen auf verschiedenen Tonhöhen gespielt werden.
Dieses Verfahren beraubt den einzelnen Ton des „Privilegs der Vorherrschaft“ und beseitigt die aus den Kirchentonarten entstandene Tonartenhierarchie der verbürgerlichten Musik. Es kann als die Systematisierung der Erfahrungen als Komponist „atonaler“ Musik verstanden werden, und es ermöglichte, zu klassischen und vorklassischen Formen zurückzukehren. Es kann auf alle musikalischen Parameter ausgeweitet werden; die serielle und die elektronische Musik, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten, haben hier ihren Ursprung, Parallel-, Absetz- und Gegenbewegungen auch.
Mit seiner „Erfindung“ ging es Schönberg darum, allen überflüssigen Schmuck, alle leere Wiederholung, alles musikalische Ornament auszumustern, das die Gedanken verdeckt oder verunreinigt, „die gedacht werden müssen“. Die kunsttheoretischen Passagen von Schönbergs „Harmonielehre“ stehen im Einklang mit dem Aufsatz „ornament und verbrechen“ von Adolf Loos, dem befreundeten Architekten und Kunsttheoretiker. „Die Kunst soll aber nicht schmücken, sie soll bloß wahr sein“, hat Schönberg seinen Schüler Karl Linke belehrt.
Der Gedanke soll das Bild hervorbringen, die Bilder dem Gedanken folgen. Wenn aber die Bilder den Gedanken beherrschen und verfälschen, statt ihn auszudrücken, das Wort mit dem Bild davonläuft, der Gedanke durch die Bilderflut nicht mehr durchzudringen vermag? Es ist die Thematik „zweier Tätigkeiten eines Menschen: eines Staatsmannes. Dessen beide Seiten wissen nichts voneinander; seines Gedanken Reinheit wird nicht getrübt durch seine öffentlichen Handlungen; und diese werden nicht schwächlich durch Rücksichtnahme auf jeweils noch ungelöste Probleme, die der Gedanke stellt.“ Es ist die Thematik der im Jahre 1930 begonnenen und unvollendet gebliebenen Oper „Moses und Aron“ auf einen eigenen Text, ausgerechnet in der bildmächtigsten Kunstgattung, der Oper, verhandelt und vielleicht eben darum Fragment geblieben.
Sowohl als Reaktion auf die antisemitischen Angriffe auf sich und seine Arbeit, als auch aus innerer schöpferischer Notwendigkeit hatte sich Schönberg Ende der zwanziger Jahre dezidiert jüdischen Themen zugewandt, im Jahre 1933, bereits im französischen Exil, den jüdischen Glauben wieder angenommen, den er 1898 aufgegeben hatte, um sich evangelisch taufen zu lassen.
Ein unpolitischer Mensch ist „Arnold Schönberg, der musikalische Reaktionär“, wie Eisler, der abtrünnige Schüler und lebenslang entschiedene Verteidiger seines Lehrers seinen Artikel zum 50. Geburtstag übertitelte, in Wort und Schrift und Notenbild nie gewesen, Schönbergs Revolution der Musik keine Musik der Revolution: In dem Streichsextett „Verklärte Nacht“ von 1899 nach einem Gedicht von Richard Dehmel gesteht eine Frau ihrem Geliebten, ein Kind von einem andern zu erwarten, und er will das Kind als eigenes, gemeinsames annehmen. Der Einakter „Von heute auf morgen“ von 1929 auf ein Libretto von Schönbergs zweiter Frau Gertrud, eine „einfache Ehegeschichte“, so Schönberg, kommt auf „eine Art Apokalypse im Familienmaßstab“ heraus, so Hanns Eisler. Die „Ode to Napoleon Buonaparte“ nach Byrons Gedicht von 1942 ist eine leicht zu entschlüsselnde Anklage gegen Hitler und seine willigen Helfer und übrigens eine Komposition, in der Diatonik als Sonderfall zwölftönigen Denkens behandelt wird.
Und da ist jenes Meisterwerk, das in einer Reihe mit Brittens „War Requiem“, Cages „4‘33“, Schostakowitschs 13. Symphonie „Babi Jar“, Nonos „Il canto sospeso“ zu stellen ist und mit dem allein schon sein Komponist in die abendländische Musikgeschichte für mehr als hundert Jahre sich eingeschrieben hätte: „A Survivor from Warsaw“. Das Melodram für einen Sprecher, Männerchor und Orchester wurde bei der Uraufführung am 4. November 1948 in Albuquerque während einer Veranstaltung der Universität von New Mexiko zweimal hintereinander gespielt. Nach dem ersten Mal verharrten die 1.500 Hörer in Schweigen, nach dem zweiten brachen sie in stürmischem Beifall aus.
Die Gefolterten von Guantanamo, die Verbrannten von Odessa, die Massakrierten von Gaza sind stumm. Einer wird sich dazu hergeben müssen, ihnen ihre Stimmen zurückzugeben. Einer wird es sein müssen.
Bild: Arnold Schönberg (1874–1951), Selbstbildnis von 1908: „Emanzipation der Dissonanz“
Arnold Schönberg: „Stile herrschen, Gedanken siegen“ .Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Anna Maria Morazzoni, Schott Music, Mainz 2007, gebunden, 567 Seiten, 63 Euro