Bis in die 1960er Jahre spielte der Begriff „Bürgerblock“ in den politischen Debatten der Bundesrepublik eine wichtige Rolle. Er bezeichnete in der Regel die Zusammenarbeit von Christlich-Demokratischer (CDU) sowie Christlich-Sozialer Union (CSU) mit kleineren Parteien der parlamentarischen Rechten: der Freien Demokratischen Partei (FDP), der Deutschen Partei (DP) und später, ab 1953 dem Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Die erste Bundesregierung, die am 20. September 1949 ihre Tätigkeit aufnahm, beruhte auf einem typischen Bürgerblock-Bündnis aus CDU/CSU, FDP und DP. Dabei fiel den Christdemokraten unter Konrad Adenauer die Führungsrolle zu.
Ihrem Selbstverständnis nach hatten sich in der Union „Männer und Frauen aller Schichten und den verschiedensten früheren Parteien zusammengefunden (…). Sie kamen zum großen Teil aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern des Nationalsozialismus.“ Die schärfste Gegenposition zu diesem heroischen Bild findet sich in der Bemerkung eines Beamten der britischen Besatzungsbehörden, der die CDU eine „amorphe Omnibuspartei der Mitte“ nannte. Das war boshaft, aber nicht falsch. Auch ein Insider betonte, daß das eigentliche Erfolgsrezept der Union auf der „Integration der pluralistischen Interessen durch die politische Einheit der Partei“ (Johannes Gross) beruhte. Es gehe weder um die Nation als entscheidende Bezugsgröße noch um Christlichkeit im spezifischen Sinn. Faktisch habe man das „C“ bloß deshalb in den Parteinamen aufgenommen, weil er Prestige verbürgte und die Unterstützung des in der Nachkriegszeit noch einflußreichen Verbandskatholizismus sicherte.
Tatsächlich konnte an der Bedeutung der Tradition des politischen Katholizismus für die Union kein Zweifel sein. Dafür sprach schon, daß ein erheblicher Teil der Parteiführung aus dem Zentrum kam. Das galt auch für Adenauer, der aber von Anfang an alles tat, diese Kontinuität zu schwächen. So wußte er zwar zu schätzen, wenn nicht nur in der Predigt des Ortspfarrers, sondern auch per Hirtenbrief Wahlempfehlungen faktisch zugunsten der Union ausgesprochen wurden, aber er stärkte gleichzeitig entschlossen den überkonfessionellen Charakter der CDU. Das hatte wenig mit Sympathie für den Protestantismus, viel mit der Sorge zu tun, daß die Partei sonst wieder im „Zentrumsturm“ eingeschlossen würde. Auf die Evangelischen griff er vor allem zurück, wenn er ein Gegengewicht zu „klerikalen“ Tendenzen oder den Vorstößen des Arbeitnehmerflügels der Union brauchte. Unter solchen Umständen machte Adenauer auch den „deutschnationalen“ Neigungen der Protestanten Zugeständnisse, obwohl er sich schon unmittelbar nach Kriegsende überzeugt gab, daß die deutsche Einheit in absehbarer Zeit unerreichbar bleibe.
Nationale Positionen vertrat keine Partei so entschlossen wie die FDP
In gewissem Sinne kann man das Sonderverhältnis von Christlich-Demokratischer und Christlich-Sozialer Union als Variante des Proporzsystems innerhalb der CDU verstehen. Allerdings wird man damit der Bedeutung der bayerischen „Staatspartei“ keineswegs gerecht, die schon unmittelbar nach ihrer Gründung eine Stärke erreichte, die sie zum ausschlaggebenden Faktor der Landespolitik machte. Ein Status, der allerdings nicht unangefochten blieb. Heute fast vergessen, bestand bis zum Beginn der sechziger Jahre ein Konkurrenzverhältnis zur Bayernpartei (BP), die noch stärker als die CSU an der katholischen Tradition und dem Föderalismus (fallweise Separatismus) ausgerichtet war.
Die deutlichste Gegenposition zu diesem Programm vertrat die FDP mit ihrer Orientierung an „Reichseinheit“, Kulturchristentum und Marktwirtschaft. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre durften die Liberalen durchaus meinen, mit diesem Angebot als bürgerliche „Dritte Kraft“ zwischen den „sozialistischen“ Riesen CDU/CSU und SPD erfolgreich zu sein, jedenfalls nicht auf die Funktion des „Züngleins an der Waage“ oder des „Mehrheitsbeschaffers“ beschränkt zu sein. Allerdings waren die inneren Spannungen bei den Liberalen besonders groß, zwischen denen, die in erster Linie einen gegen die Gewerkschaften und die „Marxisten“ gerichteten Kurs verfolgten, und denen, die die Partei als Kern einer „Großen Rechten“ betrachteten.
Tatsächlich gab es im ersten Nachkriegsjahrzehnt keine andere Partei des Bundestages, die so entschlossen nationale Positionen vertrat wie die FDP. Das kam schon in der scharfen Kritik der Entnazifizierung zum Ausdruck. Die Freien Demokraten lehnten die „neue Hexenjagd“ ab, und manche Landesverbände forderten sogar eine „Generalamnestie“ unter ausdrücklichem Hinweis auf die Kriegs- und Nachkriegsverbrechen „der anderen“. Die betont nationale Linie fand ihren Ausdruck auch darin, daß man die Außenpolitik Gustav Stresemanns der einseitigen Westbindung gegenüberstellte, die Adenauer favorisierte.
Im ersten Bundestag bildete die FDP mit der Deutschen Partei eine Fraktionsgemeinschaft. Eine Zusammenarbeit, die sich schon im Parlamentarischen Rat und auf Landesebene durch die gemeinsame „antimarxistische“ Frontstellung ergeben hatte. Über diese Kooperation hinaus ging die Bildung der Niederdeutschen Union (NU) aus CDU und DP auf dem Gebiet Niedersachsens. Der Hauptgrund dafür war die Reserve gegenüber der „katholischen“ CDU in den protestantisch und welfisch geprägten Regionen, die sie bereits zur engen Zusammenarbeit mit der Niedersächsischen Landespartei (NLP) bewogen hatten. Der gelang es nach ihrer Umbenennung in Deutsche Partei auch in den übrigen Teilen der britischen Zone (Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein) Verbände aufzubauen und nach Gründung der Bundesrepublik weitere in den neuen Ländern, die aber nur teilweise arbeitsfähig waren (Berlin, Hessen, Bayern, Nordrhein-Westfalen). Die Annahme, daß das für die Bildung einer echten Bundespartei unter der Parole „Macht den rechten Flügel stark!“ genüge, sollte sich aber nicht bestätigen. Es blieb dabei, daß die welfischen Stammwähler die eigentliche Hausmacht der DP bildeten.
Angesichts der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik wird oft übersehen, wie schwierig und gefährdet ihre Anfänge waren. Zu betonen ist deshalb, daß Adenauers Kurs – Wiederaufbau, Rückgewinnung der Souveränität, wirtschaftliche, militärische und politische Integration in den Westblock – nicht nur nicht unumstritten, sondern aus der Sicht vieler Zeitgenossen zum Scheitern verurteilt war. Den Rückhalt, den die erste Bundesregierung in der Bevölkerung gehabt hatte, verlor sie jedenfalls rasch. Nach Umfragen während der ersten Legislaturperiode des Bundestags hielt nicht einmal ein Drittel der Bürger die politische Generallinie für erfolgversprechend. Infolge der Währungsreform war die Arbeitslosigkeit wieder angestiegen. Es blieben Kriegsfolgekosten in exorbitanter Höhe zu bewältigen, die Verhandlungen mit den Siegermächten voranzutreiben, der Status des Saargebiets zu klären und praktische Schritte zur Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vorzubereiten.
Angesichts dessen, hat der Historiker Hans-Peter Schwarz festgehalten, war keineswegs ausgemacht, daß „der neuen Regierung Adenauer ein besseres Schicksal beschieden sein (…) würde, als den Quisling-Regimen unseligen Andenkens, die zwischen 1940 und 1944 überall in dem von Deutschland besetzten Europa eingesetzt waren“.
Foto: Bundeskanzler Konrad Adenauer (erste Reihe 3.v.l.) mit seinem ersten Kabinett 1949, darunter die FDP-Minister Franz Blücher (erste Reihe rechts neben Adenauer), Eberhard Wildermuth (r. hinter Adenauer), Thomas Dehler (2.v.r.) und Gustav Heinemann (letzte Reihe Mitte mit Brille) und den Deutsche-Partei-Ministern Heinrich Hellwege (l. hintere Reihe) und Hans Christoph Seebohm (r. hintere Reihe): Adenauer machte den „deutschnationalen“ Neigungen der Protestanten Zugeständnisse